Nach Seymour Hershs Recherche: Das sagen deutsche Behörden zu Nord-Stream-Ermittlungen
Unser Interview mit US-Journalist Seymour Hersh, der die USA der Angriffe auf die Nord-Stream-Pipelines bezichtigt, schlägt hohe Wellen. Wie lange schweigen deutsche Behörden noch?

Fast fünf Monate sind seit den Explosionen an Nord Stream 1 und Nord Stream 2 vergangen. Dass es Sabotage war, bezweifelt niemand mehr: Dafür gibt es ausreichend Beweise. Doch wer steckt dahinter? Es bleibt ein ungelöstes Rätsel mit politischem Sprengstoff.
Interessanterweise finden sich gerade in den USA – einem nicht betroffenen Drittland, das von den Explosionen durch die Lieferung von Flüssigerdgas, oder LNG, profitiert – Stimmen, die das Schweigen rund um die Explosionen durchbrechen. Nach den Vermutungen des Starökonomen Jeffrey Sachs sorgt gerade die Recherche des renommierten Investigativjournalisten und Pulitzer-Preisträgers Seymour Hersh für viel Aufruhr, denn er will dank einer ungenannten Quelle ernste Beweise dafür haben, dass die USA hinter den Angriffen stehen.
Auf der anderen Seite hatte die New York Times noch im Dezember darüber spekuliert, dass Russland der Saboteur sein könnte. Wer hat recht? Die Reaktionen der Menschen zeigen auf jeden Fall: Selbst wenn Deutschland gerade ohne russisches Pipeline-Gas auskommt, ist das Interesse an einer Aufklärung nach wie vor immens. Schließlich hatte Nord Stream 1 Deutschland jahrelang mit günstigem russischem Gas versorgt.
Bundeswirtschaftsministerium leitet an „betroffene Staaten“ weiter
Sollen also vor allem deutsche Behörden den Menschen hierzulande Rede und Antwort stehen? Interessanterweise hält das Bundeswirtschaftsministerium Deutschland offenbar nicht für einen betroffenen Staat. Auf eine Nachfrage der Berliner Zeitung zum Stand der Ermittlungen verweist eine Ministeriumssprecherin darauf, dass die Pipelines im Besitz der Betreiber Nord Stream 1 AG und Nord Stream 2 AG seien. „Für eventuelle Untersuchungen möchte ich auf die Unternehmen und die betroffenen Staaten verweisen“, so die Antwort. Auch die Reparaturarbeiten an Nord Stream 1 und Nord Stream 2 sind nach Ansicht des Ministeriums „rein unternehmerische Entscheidungen“ bzw. „Entscheidungen des russischen Staates“.
Stimmt das so? Der von der Pleite bedrohte Betreiber und Besitzer der Pipeline Nord Stream 2, die Nord Stream 2 AG, gehört in der Tat zu 100 Prozent dem russischen Staatskonzern Gazprom. Deutsche Unternehmen wie Uniper und Wintershall Dea, die französische Engie und die britische Shell haben den Pipelinebau lediglich zu 50 Prozent finanziert, halten aber keine Anteile. Bei der Nord Stream AG ist die Eigentumsstruktur aber anders. Gazprom ist mit 51 Prozent zwar der Haupteigentümer, die anderen 49 Prozent gehören jedoch Wintershall Dea, E.ON, Engie und der niederländischen Gasunie.
Bundesgeneralanwalt ermittelt wegen „verfassungsfeindlicher Sabotage“
Das Bundeswirtschaftsministerium ist in Deutschland zwar für wirtschaftliche Interessen Deutschlands zuständig, aber nicht für die Sicherheitsfragen und nicht für die Aufklärung der Taten. In diesem Fall wollten die entsprechenden Behörden aus Deutschland, Dänemark und Schweden noch Anfang Oktober gemeinsam ermitteln. Doch daraus ist bekanntlich nichts geworden, nachdem zuerst Schweden und danach Dänemark sich wegen Bedenken mit Blick auf die Vertraulichkeit aus dem sogenannten Joint Investigation Team verabschiedet hatten. Seitdem ermitteln die Staaten alleine.
In Deutschland ist der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof seit dem 10. Oktober 2022 dafür zuständig. Der Grund sei der Verdacht der „vorsätzlichen Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion“ (§ 308 Abs. 1 StGB) sowie der „verfassungsfeindlichen Sabotage“ (§ 88 Abs. 1 StGB), wie die Pressestelle der Behörde auf Anfrage mitteilt. Ein Blick ins Strafgesetzbuch zeigt also, dass Deutschland auch unabhängig von der Eigentumsstruktur der Pipeline-Betreiber als betroffener Staat gilt, weil durch die Explosionen „Anlagen, die der öffentlichen Versorgung mit Wärme dienen oder sonst für die Versorgung der Bevölkerung lebenswichtig sind“, außer Funktion gesetzt wurden.
Der Bundesgeneralanwalt lässt unter Berufung auf das Justizministerium wissen, dass das Ermittlungsverfahren sich immer noch gegen Unbekannt richte. Mit den weiteren Ermittlungen seien das Bundeskriminalamt (BKA) und die Bundespolizei beauftragt worden, die „sämtlichen Hinweisen zur Aufklärung des zugrunde liegenden Sachverhalts nachgehen“. Das BKA und die Bundespolizei leiten ihrerseits bei Anfragen an den Generalbundesanwalt zurück.

Anfrage von Sahra Wagenknecht: Geheimhaltung hat Vorrang?
Die Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht hat inzwischen als Bundestagsabgeordnete von ihrem Informationsanspruch Gebrauch gemacht und nachgefragt, ob die Bundesregierung „die detaillierten Hinweise des Investigativjournalisten und Pulitzer-Preisträgers Seymour Hersh zur Planung und Durchführung des Attentats auf die Nord-Stream-Pipelines“ überprüfen UND eine Stellungnahme der US-Regierung sowie der norwegischen Regierung zu den geschilderten Vorkommnissen erbitten wolle.
Die Antwort des Justizministeriums, die der Berliner Zeitung exklusiv vorliegt, fällt jedoch genauso dürr aus: Dem Generalbundesanwalt würden „keine Erkenntnisse im Sinne der jüngsten Veröffentlichung des Journalisten Seymour Hersh vorliegen“. Es sei zwar eine grundsätzliche verfassungsrechtliche Pflicht der Bundesregierung, die Informationsansprüche des Deutschen Bundestages und einzelner Abgeordneter zu erfüllen. Aber in dem Fall habe das berechtigte Geheimhaltungsinteresse zum Schutz der laufenden Ermittlungen Vorrang. „Eine Auskunft zu Erkenntnissen aus dem Ermittlungsverfahren würde konkret weitergehende Ermittlungsmaßnahmen erschweren oder gar vereiteln“, so die Begründung. Mit anderen Worten: Die Menschen in Deutschland werden offensichtlich noch lange keine offiziellen Antworten bekommen.
Hat zumindest die Wirtschaft noch Interesse an einer Aufklärung?
Auch eine Befragung der deutschen Unternehmen ergibt eine eher zurückhaltende Position zu den neuesten journalistischen Enthüllungen. Die BASF-Tochter Wintershall Dea mit Sitz in Kassel, die immer noch 15,5 Prozent Anteil an der Nord Stream AG hat, respektiert nach eigenen Worten „die absolute Vertraulichkeit der laufenden behördlichen Ermittlungen in Deutschland, Dänemark und Schweden“ und möchte nicht über die Täter spekulieren. Seine Investitionen in Nord Stream 2 hatte der Konzern noch im letzten Jahr abgeschrieben.
E.ON, Deutschlands größter Energiekonzern mit Sitz in Essen, steht ebenfalls zu seiner Minderheitsbeteiligung von 15,5 Prozent an der Nord Stream AG, will sich aber ebenfalls nicht „an Spekulationen und Gerüchten beteiligen“. Lediglich der ehemals größte Importeur russischen Gases in Deutschland, der vor Kurzem verstaatlichte Energiekonzern Uniper, teilt auf Anfrage der Berliner Zeitung mit, „an einer vollständigen Aufklärung des Sachverhaltes sehr großes Interesse“ zu haben. Diese Aufklärung sei aber eine Aufgabe der relevanten staatlichen Stellen, wird hinzugefügt. Der Konzern hat sein finanzielles Engagement an Nord Stream 2 inzwischen ebenfalls komplett abgeschrieben.
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