Nord Stream: Haben die Russen den Anschlag total verpennt?

Niemand weiß, wer die Nord-Stream-Pipelines in die Luft gesprengt hat. Beobachter sind  erstaunt, dass die russischen Geheimdienste völlig im Dunklen tappen.

Das Ende einer Pipeline.
Das Ende einer Pipeline.Swedish Coast Guard

Die Frage, wer für die Anschläge gegen die Nord-Stream-2-Pipeline verantwortlich ist, wird nach den Veröffentlichungen von Seymour Hersh international heftig diskutiert. Hersh hatte geschrieben, die US-Regierung hätte die Pipelines gemeinsam mit Norwegen gesprengt, die Regierungen beider Länder dementierten heftig jede Verwicklung in die Aktion. International hält man eine US-Beteiligung für durchaus möglich: So sagte ein hoher Kaukasus-Politiker aus einem Land, das Russland nicht gerade freundschaftlich verbunden ist, hinter vorgehaltener Hand: „Die Sprengung von Nord Stream 2 kann in keiner Weise im Interesse Russlands gewesen sein. Wir müssen uns daher fragen: Wer profitiert von dem Anschlag?“

Große Verwunderung herrscht in westlichen diplomatischen Kreisen darüber, dass die russischen Geheimdienste offenbar völlig überrascht wurden und immer noch ahnungslos sind. Das gilt als Blamage, zumal schon der Machtwechsel in Kiew im Jahr 2014 Moskau völlig unvorbereitet vorgefunden hatte. Hätten die russischen Dienste auch nur die geringsten Kenntnisse über die Anschläge, würden sie diese veröffentlichen. Dies gilt insbesondere, wenn es tatsächlich westliche Akteure oder die Ukraine gewesen sein sollen. Aus der russischen Botschaft in Berlin gibt es dazu lediglich die Mitteilung, dass Moskau im Oktober 2022 die offizielle Bitte an Bundeskanzler Olaf Scholz gerichtet habe, russische Experten an der Untersuchung der Anschläge zu beteiligen. Bis heute haben die Russen keine Antwort auf ihr Schreiben erhalten. Mehr, so ist zu hören, wissen die Russen nicht. Beobachter weisen darauf hin, dass die Russen, wenn sie es selbst gewesen wären, natürlich eine falsch Fährte hätten legen müssen, damit der Verdacht nicht auf sie fällt. 

Philipp Eder, Leiter der Abteilung Militärstrategie beim österreichischen Bundesheer, zeigt sich über die offenkundige Ahnungslosigkeit der russischen Dienste nicht überrascht. Er sagte der Berliner Zeitung: „Der ganze Ukraine-Krieg zeigt, dass die russischen Geheimdienste massive Fehler gemacht haben. Sie haben Putin in ein Abenteuer gelassen, offenbar auf Grundlage einer kompletten Fehleinschätzung und ohne klares Lagebild. Daher ist es schon denkbar, dass sie von den Anschlägen auf Nord Stream 2 nichts mitbekommen haben.“ Zu den Recherchen von Seymour Hersh sagte Eder: „Ich habe die Arbeit von Hersh immer geschätzt. Allerdings ist es im Moment wirklich sehr schwer, dazu jetzt etwas zu sagen – wir wissen es einfach nicht. Kürzlich hat der ukrainische Militärgeheimdienstchef Budanov im Zusammenhang mit den Anschlägen in Russland gesagt, mit Geld sei alles zu machen. Es gibt also vielleicht noch andere Mitwirkende, von denen wir vielleicht nie erfahren werden.“

In einem Artikel der staatlichen chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua wird nun der „kroatische Sicherheitsexperte“ Mirko Vukobratovic zitiert: Er sagte demnach in einem Interview mit Xinhua, eine US-Verwicklung sei „nicht unmöglich“, weil die Vereinigten Staaten am meisten von dem Vorfall profitiert hätten. Vukobratovic sagte, dass der Artikel von Hersh „wichtige, objektive“ Details über die Nord-Stream-Explosionen geliefert habe, und weiter: „Chinas Standpunkt, dass die Untersuchung objektiv und unparteiisch sein muss, ist der einzig richtige. Nur wenn sie professionell durchgeführt wird, können wir über die Absichten derjenigen sprechen, die die Explosion verursacht haben“, sagte er. Vukobratovic arbeitet nach Auskunft der kroatischen Regierung „nicht im Ministerium für auswärtige und europäische Angelegenheiten der Republik Kroatien,  und das Ministerium hat keine Aufzeichnungen über eine Zusammenarbeit mit ihm“.

Xinhua schreibt, dass „mögliche Beweise für eine US-Beteiligung würden die Art und Weise beeinflussen, wie jede Seite der Ukraine-Krise international betrachtet wird“. Zur Untermauerung dieser Aussage zitiert die Agentur den Italiener Davide Tabarelli, Professor für Wirtschaftsingenieurwesen an der Universität Bologna und Präsident von Nomisma Energia, einem Beratungsunternehmen für Energieforschung. Dieser sagte laut Xinhua: „Wir haben seit mehreren Wochen Gerüchte über eine mögliche Beteiligung der Vereinigten Staaten gehört, lange vor den jüngsten Anschuldigungen.“ Eine bestätigende Aussage von Tabarelli, dass die USA hinter den Anschlägen stecken, lässt sich jedoch aus den Xinhua-Zitaten nicht ableiten. Die chinesischen Medien sind auf der Suche nach Zitaten aus Nato-Staaten, um die Glaubwürdigkeit der Recherchen von Seymour Hersh zu stützen. 

Die Berichterstattung von Xinhua soll die Bestrebungen der Regierung in Peking flankieren, eine unabhängige Untersuchung auf der Ebene der Vereinten Nationen (UN) zu starten. Russland und die USA sowie andere westliche Länder waren am Dienstag wegen der Forderung des Kremls nach einer UN-Untersuchung der Nord-Stream-Sabotage aneinandergeraten. Der russische Botschafter bei den UN, Wassili Nebenzia, sagte vor dem UN-Sicherheitsrat in New York , Moskau habe „kein Vertrauen“ in die staatlichen Ermittlungen, die von Dänemark, Schweden und Deutschland durchgeführt werden, berichtet die Nachrichtenagentur AP.