Nord Stream: War das die letzte Warnung an Putin?

Die Pipeline-Anschläge könnten von russischen Putin-Feinden durchgeführt worden sein. Wenn das stimmt, könnte es für den Kreml-Chef gefährlich werden.

Wladimir Putin (l.), Präsident von Russland, und Waleri Gerassimow, Generalstabschef von Russland, während eines Treffens mit hochrangigen Militäroffizieren. 
Wladimir Putin (l.), Präsident von Russland, und Waleri Gerassimow, Generalstabschef von Russland, während eines Treffens mit hochrangigen Militäroffizieren. Sputnik Kremlin/Pool/AP

Als vor einem Monat der US-Journalist Seymour Hersh eine Recherche über die möglichen Verantwortlichen für den Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines veröffentlichte, war die Reaktion in der Weltöffentlichkeit gespalten: Im Westen wurde die These, die US-Regierung sei gemeinsam mit Norwegen für die Sprengungen verantwortlich, mit Dementis bedacht und vielfach mit Schweigen rezipiert. In China und Russland und vielen anderen Ländern außerhalb der US-Einflusssphäre sah man dagegen die Täterschaft der US-Regierung als erwiesen an. Im Westen wurde kritisiert, Hersh habe nur eine anonyme Quelle verwendet. Russland und China reichte der Bericht jedoch aus, um Washington als quasi überführt zu betrachten. Die Forderungen aus Peking und Moskau nach einer unabhängigen Untersuchung durch die Vereinten Nationen hat Washington bisher abgelehnt.

Nun haben die New York Times, Die Zeit und einige öffentlich-rechtliche Sender gewissermaßen die Gegenrecherche präsentiert: In sehr ähnlichen Enthüllungen berichten die Medien, dass eine Gruppe von angeblichen Ukrainern hinter den Anschlägen stecke. Die Quellen der Medien sind, anders als bei Hersh, nicht einfach anonyme Quellen, sondern anonyme Geheimdienstquellen. Die Story: Es soll deutschen Ermittlern gelungen sein, ein Boot zu identifizieren, das angeblich für eine Geheimoperation in der Ostsee verwendet wurde. Es soll sich den anonymen Quellen zufolge um eine Jacht handeln, die von einer Firma mit Sitz in Polen gechartert worden und von Rostock aus in See gestochen sein soll. Die Firma soll angeblich zwei Ukrainern gehören. An der Sprengung selbst seien den Ermittlungen zufolge fünf Männer und eine Frau beteiligt gewesen. Allerdings hatten die Ermittler diesmal nicht das Glück, am Tatort zurückgelassene Pässe zu finden, mit denen sich eine Identität der Täter zweifelsfrei zuordnen lässt. Die Zeit schreibt: „Von zwei der sechs mutmaßlichen Kommando-Mitglieder haben die Ermittler zumindest die falschen Personalien, dazu Personenbeschreibungen durch Zeugen.“ Die Bundesanwaltschaft bestätigte am Mittwoch, dass bereits im Januar im Zusammenhang mit einer verdächtigen Anmietung ein Schiff durchsucht wurde. Es bestehe der Verdacht, dass das Schiff zum Transport der Sprengsätze verwendet worden sei, die an den Pipelines explodierten. Während die Ukraine umgehend jede Beteiligung energisch bestritt und von „Verschwörungstheorien“ sprach, sagte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius, es könne sich auch um eine sogenannte False-Flag-Operation handeln. Im ARD-Radio präzisierte der Terrorexperte Michael Götschenberg diesen Gedanken und erklärte, Russland könnte hinter einer solchen Operation stehen, um der Ukraine die Schuld in die Schuhe zu schieben.

Eine interessante Einordnung liefert der transatlantisch hervorragend vernetzte Corriere della Sera. Die Mailänder Zeitung schreibt, die Zerstörung sei „nicht die einzige Episode“, die auf eine mögliche „innere Front“ gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin hindeute. Der Corriere nennt weitere „verstörende Ereignisse“ wie das Attentat auf die Tochter des nationalistischen Ideologen Alexander Dugin in Moskau, das jüngste Eindringen eines Kommandos eines auf Seiten der Ukraine kämpfenden Freiwilligenkorps auf russisches Territorium, dem möglichen Angriff auf ein Radarflugzeug in Belarus sowie einen vereitelten Bombenanschlag gegen Konstantin Malofejew, den Eigentümer des nationalistischen Moskauer Senders Zargrad TV. Der Corriere schreibt, einige dieser Verbrechen gingen auf das Konto der Truppe des russischen Neonazis Denis Kasputin. Dieser habe eine Zeit lang in Deutschland gelebt und sich dann dem Kampf gegen die Invasoren in der Ukraine angeschlossen.

Diese Interpretation könnte als letzte Warnung gesehen werden, denn sie würde bedeuten: Putins Feinde in Russland sind schon so mächtig, dass sie sein wichtigstes Projekt – die Pipeline nach Deutschland – zerstören können. Sie könnte also auch Putin in einer Kommando-Aktion gefährlich werden. Dass die US-Dienste den Anschlag aktuell nicht der russischen Regierung zuschrieben, ergibt sich aus einer Anmerkung in der New York Times, wo es heißt: „US-Beamte sagen, sie hätten keine Beweise für eine Beteiligung der russischen Regierung an dem Angriff gefunden.“ Diese Lesart würde sich auch mit einer der Schlussfolgerungen von Seymour Hersh decken. Hersh hatte geschrieben, dass die russischen Geheimdienste vor Neid erblassen würden über die Leistung ihrer westlichen Kollegen. Die russischen Dienste tappen noch völlig im Dunkeln über den Tathergang und gelten im Westen aktuell als ziemlich unfähig. Passend dazu auch eine ukrainische Einschätzung: Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow sagte, es sei „eine Art Kompliment“, dass ukrainischen Spezialkräften so ein Einsatz zugetraut werde. Die New York Times und andere Medien schreiben, dass der Nord Stream-Anschlag zwar von einer privaten Gruppe durchgeführt worden sein kann, jedoch nicht ohne Unterstützung irgendeiner Regierung. Wenn es also eine Kooperation mit einem militärisch starken Land mit russischen Milizen gibt, wären auch weitere Operationen gegen Russland vorstellbar. 

Der Corriere bringt noch einen weiteren Aspekt ein: Die Zeitung hält es für möglich, dass die Geheimdienste neuen Enthüllungen von Seymour Hersh zuvorkommen wollten.

Russland spielt die Berichte vorerst herunter. Die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass zitiert einen niederrangigen Diplomaten der russischen Botschaft in Washington mit den Worten: „Wir haben kein Vertrauen in die ‚Unparteilichkeit‘ der Schlussfolgerungen des US-Geheimdienstes. Wir betrachten anonyme ‚Leaks‘ als nichts anderes als einen Versuch, diejenigen zu verwirren, die ernsthaft versuchen, den Dingen in diesem ungeheuerlichen Verbrechen auf den Grund zu gehen. Die Schuld soll von den Staatsmännern, die die Angriffe in der Ostsee befohlen und koordiniert haben, auf einige abstrakte Einzelpersonen verschoben werden.“ Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sprach laut der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti von einem Ablenkungsmanöver und einer Medienkampagne.

Die Zeit dagegen lobt die Arbeit der deutschen Behörden: „Die Versuche, die Attentäter, ihre Finanziers und Hintermänner zu identifizieren, dauern an. Gute Kriminalistik eben.“ Aus China gab es bis Redaktionsschluss keine Stellungnahmen zu den Berichten.


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