Moskau feiert „Atomoffensive“: Schon wieder satte Profite für Putin trotz Krieg?

Während Deutschland aus der Atomkraft aussteigt, baut Russland in aller Welt Atomreaktoren und liefert trotz des Ukraine-Krieges noch mehr Uran nach Europa. Wie geht das?

Der russische Premierminister Michail Mischustin (l.) spricht mit dem Generaldirektor der staatlichen Atomenergiegesellschaft Rosatom, Alexei Lichatschow, während ihres Treffens in Moskau am Dienstag, den 31. Januar 2023. 
Der russische Premierminister Michail Mischustin (l.) spricht mit dem Generaldirektor der staatlichen Atomenergiegesellschaft Rosatom, Alexei Lichatschow, während ihres Treffens in Moskau am Dienstag, den 31. Januar 2023. Dmitry Astakhov/Pool/AP

Der russische Angriff auf die Ukraine jährt sich zum ersten Mal, und die EU bereitet ein neues Sanktionspaket vor, das unter anderem Exporte von Toiletten und elektronischen Bauteilen nach Russland verbieten soll. Was aber schon wieder nicht auf der Liste steht: die russische Atomindustrie.

Keine politischen Kräfte waren in der EU bisher stark genug, um eine der bedeutendsten russischen Energiebranchen – nach Gas und Öl allerdings – zu beknien. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat inzwischen in Brüssel zwar versucht, die EU-Kommission von solcher Notwendigkeit zu überzeugen. Russland habe die Gefahr einer Strahlenkatastrophe in Europa geschaffen, zitierte Euronews den ukrainischen Staatschef nach den Beratungen. Er findet es „nicht normal“, dass die russische Atomindustrie immer noch „frei von globalen Sanktionen“ sei. Doch die EU-Kommissare stellen sich bisher gegen alle Bitten taub. 

Russische Exporte von Atomenergie nach Europa steigen trotz Krieg

Der russische Atomsektor ist nicht nur frei von den Sanktionen, sondern soll im letzten Jahr die Exporte der Kernbrennstoffe und -Technologien in alle Welt nach Wert auf fast rund 1,14 Milliarden US-Dollar erhöht haben. Darüber berichtet das US-Nachrichtenportal Bloomberg unter Verweis auf die exklusiven Daten (russische Geschäfte mit Iran nicht berücksichtigt) des Royal United Services Institute, der weltweit ältesten führenden britischen Denkfabrik für Verteidigung und Sicherheit.

Der Zuwachs ergibt ein Plus von fast 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahr oder ein Plus von 77 Prozent im Vergleich zum Jahr 2020. Die EU-Länder haben demnach 2022 so viele Kernbrennstoffe in Russland beschafft wie seit drei Jahren nicht mehr. Das Geschäft boomt von Ägypten und Iran bis China und Indien, und die russischen Staatsmedien bejubeln in dieser Hinsicht die „russische Atomoffensive“.

Die blühende Handelsstatistik beschere Präsident Putin steigende Staatshaushaltseinnahmen und festige seinen Einfluss auf eine neue Generation globaler Käufer, fasst der Bloomberg-Autor zusammen. Jedes Mal, wenn der russische Staatskonzern Rosatom dem Bau eines neuen Atomreaktors zustimme, sichere er sich so Cashflows und politischen Einfluss „für möglicherweise Jahrzehnte in der Zukunft“. Laut dem Atomkraft-Experten Edwin Lyman von der amerikanischen Vereinigung besorgter Wissenschaftler, Union of Concerned Scientists, sieht Moskau im Atomenergie-Handel eine Möglichkeit, die bestehenden Allianzen zu stärken.

Neue Reaktoren in der Türkei und Ungarn

Der Energieriese Rosatom, der 2007 auf Putins Erlass gegründet wurde, ist für Russland vor allem als Hersteller von Atomwaffen relevant, aber nicht nur. Das Staatsunternehmen verwaltet russische Kernkraftwerke, zivile Nuklearunternehmen im Uranbergbau, Forschungsorganisationen sowie die nukleare Eisbrecherflotte Russlands. Es ist zudem an vielen Kernkraftwerken im Ausland beteiligt. Zum Beispiel baut Rosatom das AKW Akkuyu im Süden der Türkei und die AKWs Paks 2 und Paks 3 in Ungarn.

Da der Konzern in beiden Fällen auch die Betreiber der AKWs kontrolliert, zögern deutsche Behörden bisher mit einer Exportgenehmigung für Siemens Energy für die Lieferungen der elektrotechnischen Steuerungstechnik für den Bau sowohl in der Türkei als auch in Ungarn. Es werde befürchtet, berichtet die russische Zeitung Kommersant unter Verweis auf eigene Quellen, dass die Steuerungstechnik nach Russland „entführt“ werden könnte, obwohl diese für ein konkretes Projekt hergestellt werde. Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó hat die fehlende Genehmigung zuletzt als einen „Angriff auf die Souveränität Ungarns“ gewertet.

18 Reaktoren in der EU komplett von Rosatom abhängig

Die europäische Abhängigkeit von Russland spiegelt sich vor allem in Importen von Uran, Brennstäben und Nukleartechnik wider. Laut dem österreichischen Umweltbundesamt und einer Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung sind insgesamt 18 Reaktoren in der EU zu 100 Prozent von Brennelementen von Rosatom abhängig, darunter sechs in Ungarn, sechs in Tschechien, vier in der Slowakei und zwei in Bulgarien.

In Russland selbst wird dabei nur ein Teil davon gewonnen, denn Rosatom hat auch ausländische Bergbaugesellschaften im Besitz, unter anderem die kanadische Bergbaugesellschaft Uranium One. Nach Angaben der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) bezog die EU etwa im Jahr 2020 über 20 Prozent des Urans aus Russland für rund 455 Millionen Euro. Weitere 19,1 Prozent kamen aus Kasachstan und 18,4 Prozent aus Kanada, wo Rosatom ebenfalls ein großer Player ist. Insgesamt kontrolliert Rosatom laut dem Uranatlas des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) 15 Prozent der globalen Uran-Förderung.

Frankreich kann (noch) nicht auf Russland verzichten

Auch die drei noch bis Mitte April funktionierenden deutschen AKWs haben in den vergangenen Jahren große Mengen von Uran aus Russland und Kasachstan verarbeitet. Der Atommüll wurde dabei nach Russland ausgeführt. Die letzten Brennelemente stammen jedoch von amerikanischen und französischen Herstellern, berichteten die Unternehmen der Berliner Zeitung. Die deutsche Abhängigkeit ist auf den ersten Blick komplett abgebaut worden, aber so einfach ist es nicht. Die Firma Nukem, die beim Rückbau der deutschen AKWs mitmacht, gehört auch Rosatom.

Das Atomkraftwerk Tricastin des Konzernes EDF in Südfrankreich.
Das Atomkraftwerk Tricastin des Konzernes EDF in Südfrankreich.Guillaume Horcajuelo/epa/dpa

Frankreich ist noch stärker auf die Zusammenarbeit mit Rosatom angewiesen, gerade im Bereich Atommüll und Anreicherung. Für die staatlichen Atomkonzerne EDF und Orano übernimmt Rosatom abgebrannte Brennstäbe aus französischen AKWs, reichert sie in den eigenen Uranaufbereitungsanlagen wieder an und liefert an Frankreich zurück. Ein Verzicht auf diese Prozesse wäre für Frankreich schmerzvoll genug, um ein Veto gegen die geplanten Sanktionen einzulegen, geschweige denn von den osteuropäischen Ländern. Deswegen wird von den Sanktionen gegen Rosatom noch abgesehen, obwohl der generelle Druck auf das Unternehmen da ist: Zum Beispiel hatte die Bundesregierung schon am Tag des russischen Einmarsches in die Ukraine den Einstieg einer Rosatom-Tochter in eine Atomfabrik im Emsland in Westdeutschland verhindert

Am Ende ergibt sich ein spannender Vergleich: Auf die milliardenschweren russischen Öl- und Gas-Importe kann die EU noch so oder so verzichten, wie die Erfahrung zeigt. Auf die Importe von Nuklearenergie, mit denen Russland zwar eine Menge Geld verdient, aber immerhin nur knapp über eine Milliarde Euro (ein Tropfen im Meer bei den riesigen Staatsausgaben?), aber nicht wirklich. Vielleicht ist hier auch der Haken? 

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