Sargnägel für die DDR: Die Preispolitik trieb skurrile Blüten, Reform unmöglich
Preisdeckel, Preisbremsen, Mietstopp – Milliardensubventionen in Waren statt in Menschen trugen zum Niedergang bei. Ex-DDR-Politiker berichten, wie es war.

Zu den wunderlichen Winkeln der DDR-Wirklichkeit gehörte die Preislandschaft. Ein Quadratmeter Wohnung kostete zwischen 40 Pfennige bis maximal 1,20 Mark Miete. Das deckte die wahren Kosten zu einem Drittel. Für die Kilowattstunde Strom zahlte man acht Pfennige bei realen Kosten von 28 Pfennigen. Die Subventionen für Grundnahrungsmittel waren gigantisch: In einem Einkaufswert 100 Mark waren 85 Mark Stützung enthalten. Schrippen und Brot gab es fast geschenkt. Dass so auf Dauer keine Wirtschaft funktionieren konnte, dass man im schönen Schein eines Selbstbetrugs lebte, ahnten wohl die meisten.
Die Folgen waren langfristig dramatisch, kurzfristig teilweise absurd.
Warum wohl verbrauchten Berliner pro Kopf und Jahr im Durchschnitt 250 Gramm Haferflocken, Umlandbewohner hingegen mit 2,5 Kilogramm das Zehnfache? Simple Antwort: weil der Berliner keine Hühner hielt. Haferflocken als Grundnahrungsmittel waren derart stark heruntersubventioniert, dass sie weniger kosteten als zum Beispiel normales Hühner- oder Karnickelfutter. Ganz ähnlich verhielt es sich mit Brot und anderen Teigwaren. Die hochwertigen Produkte fraßen die vielen auf dem Land privat gehaltenen Nutztiere. Zehn Prozent aller Nahrungsmittel wurden auf diese Weise verfüttert. Die Verschwendung von Wasser und Energie kannte keine Preis-Grenzen.
Was für Marktwirtschafts-Sozialisierte absurd klingt, erklärt sich aus dem Verständnis der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Den Grundbedarf sollten alle preiswert decken können. Preisstabilität gehörte für jede Staats- und Parteiführung – anfangs unter Walter Ulbricht, noch stärker unter Erich Honecker – zu den Grundfesten des Sozialismus.
Schon der nationalsozialistische Staat hatte seit 1933 mit Preisstopps und Mietpreisbremsen gewirtschaftet. Die sowjetische Administration verordnete 1945 einen Preisstopp: Mieten blieben auf dem Stand von 1936, alle anderen Preise auf dem Niveau von 1944 eingefroren. Daran war nicht zu rütteln. Da mochten die Fachleute noch so warnen.
Die für die DDR genannten Zahlen und Fakten stammen aus einem Vortrag von Dr. Manfred Domagk, einem, der es wissen muss, denn er war jahrelang Staatssekretär im 1965 gegründeten Amt für Preise beim Ministerrat der DDR. Im Erzählsalon der Verlegerin Katrin Rohnstock hatten sich ehemalige Spitzenkräfte der DDR-Wirtschaft zu einer ihrer schon traditionellen Runden getroffen. Angesichts der akuten Inflation und der Flut von Preisbremsen, -deckeln und -stoppwünschen sprachen sie über Sinn und Unsinn, über Maß und Übertreibung von Preisregulierungen. Auf diesem komplexen Gebiet verfügen sie über einige Erfahrungen.

Ende der 1980er-Jahre war das Subventionsvolumen in der DDR, einschließlich Kultur, Personenverkehr und Wohnungswesen, schließlich so aufgebläht, dass Löhne, Gehälter und Renten der DDR-Bürger nur 57 Prozent ihrer eigentlichen, direkten Einkommen ausmachten. Der erhebliche andere Teil wanderte in die „zweite Lohntüte“. Das Problem dabei: Den Leuten war immer weniger bewusst, dass dieses System der Umverteilung über Niedrigpreise ihren Verdienst indirekt stark erhöhte. Man verglich ja sein eigenes, auf dem Lohnstreifen ausgewiesenes niedriges Einkommen mit dem viel höheren im Westen. Wer wäre auf den Gedanken gekommen, den nicht bezahlten Wertanteil der Waren auf Gehalt oder Rente aufzuaddieren?
„Das war ein krasser Fehler“, urteilt Manfred Domagk im Rückblick, „zumal in der Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen Konsumverhalten, insbesondere aber dem Lohnniveau.“ Das Volk, der undankbare Lümmel, nahm die Milliardengeschenke an, aber nicht als solche wahr. Die DDR-Propaganda berichtete ausführlich, wie die kapitalistische Marktwirtschaft in der BRD unter einer Lohn-Preis-Spirale und Inflation leide. Na und? Der Westverwandtschaft ging es doch anscheinend gold.
Mondpreise vergrätzen DDR-Bürger
Umso vergrätzter nahm die DDR-Bevölkerung die andere, die teure Seite der Preispolitik wahr: Ein Farbfernseher kostete mit 4000 Mark etwa vier Monatsgehälter. Haushaltsgeräte, Kassettenrekorder, Uhren sollten über hoch angesetzte Preise dem Staat Einnahmen bringen, ebenso die im Edeltextilhandel Exquisit oder in Delikat-Läden angebotenen gehobenen Waren. Den Preis bestimmte der Staat.
Das Volk zerriss sich das Maul über die Mondpreise für technische Güter und über Exquisit-Kleider, die mehr als 700 Mark kosteten. Der politische Schaden war unübersehbar, der ökonomische Nutzen gering: Volkswirtschaftlich betrachtet fiel das Edelsegment kaum ins Gewicht, sagt Domagk – neun Milliarden Mark bei einem gesamten Einzelhandelsumsatz von 125 Milliarden Mark. Trotz aller Bemühungen, Kaufkraft abzuschöpfen, blieb ein Überhang von 12,5 Milliarden Mark.
Das war schon paradox: Weil das Leben so billig war, blieb trotz niedriger, nur leicht nach Wirtschaftsbranchen differenzierter Löhne und Gehälter bei vielen etwas übrig. Die Metallurgie zahlte mehr als die Textilfabrik. Die Sache mit dem Kaufkraftüberhang konnte angesichts genereller Warenknappheit auf Dauer nicht gut gehen, und den DDR-Preisgestaltern war das durchaus bewusst. Sie konnten ja rechnen, waren weder blind noch taub, sondern fachlich hoch qualifiziert. „Die Eingaben (Vorschläge, Hinweise, Beschwerden der Bürger an Staatsorgane, d.R.) wurden aggressiver“, erinnert sich Domagk.
Honecker stoppt Wirtschaftsreform
Was konnte man tun? Ein Versuch, die Fehlentwicklungen zu korrigieren, startete 1967 mit dem sogenannten Ökonomischen System des Sozialismus (ÖSS). Der in den letzten Jahren der Ulbricht-Ära gesetzte Impuls sollte Effizienz und Wachstum heben, Zentralisierung abbauen, Planung flexibilisieren, Innovation beflügeln. Die Preiskomponente zielte darauf, den realen Aufwand für ein Produkt im Preis widerzuspiegeln. Moderne Waren sollten zum Beispiel mehr kosten dürfen als veraltete. Auch der Abschied von den Subventionen gehörte dazu.
Industrie- und Verbraucherpreise waren neu zu kalkulieren. Überall wurde gerechnet. Tatsächlich gelangen eine wesentliche Qualifizierung des Industriepreissystems sowie eine Agrarpreisreform. Diese bewirkte, dass 99 Prozent der Landwirtschaftsbetriebe rentabel wirtschaften konnten.
Die Idee des Ökonomischen Systems als Ganzes fand sein Ende am Unwillen der sowjetischen Genossen. Bei einem Gespräch mit dem aufsteigenden Erich Honecker beklagte Leonid Breschnew die Überheblichkeit der DDR-Genossen, die glaubten, das beste Modell des Sozialismus entwickelt zu haben. Wörtlich überliefert ist: „Diese Überheblichkeit der DDR muss man ändern, das musst du ändern.“
Auf Ulbricht, der sich aktiv für eine effektivere Volkswirtschaft eingesetzt hatte, folgte 1971 Honecker. Der bekam zwar vom Preisminister jährlich eine Analyse der negativen Auswirkungen der massiven Subventionspolitik vorgelegt, aber er „negierte die Fakten der Analysen und wies jegliche Änderungsvorschläge zurück“, berichtet Domagk. Im Kern lauteten die durchgerechneten Vorschläge der Fachleute: Subventionen zurückfahren, Preise entsprechend anpassen, zum Ausgleich Einkommen, einschließlich Renten und Stipendien, erhöhen. So hätte zum Beispiel der sparsamere Verbrauch von teurerem Strom die Investition in ein komplettes Kraftwerk erübrigt. Honecker habe jedoch die Tragweite der Reformideen nie verstanden.
„Ein schwerer Fehler“
Domagks Fazit: „Die Rücknahme des ÖSS war ein schwerer Fehler.“ Die Subventionierungen trugen entscheidend dazu bei, dass „wir über unsere Verhältnisse lebten“.
Entsprechend stiegen die Auslands- wie die Inlandsschulden. Vor allem sank die Akkumulationsrate (also der Anteil der Investitionen im produktiven Bereich) von gesunden 25,1 Prozent im Jahr 1971 auf neun Prozent 1988, dem letzten vollständigen DDR-Jahr. Das war zum Überleben der Wirtschaft klar zu wenig. Man lernte im Marxismus-Leninismus-Unterricht, dass die Arbeitsproduktivität das entscheidende Kriterium für den Sieg über den Kapitalismus sei – doch im Vergleich zu Westdeutschland lag sie um 40 Prozent niedriger.
Was wäre daraus zu lernen? Derzeit kommen Preisbremsen, Preisdeckel, Energiepauschalen und Subventionen ohne soziale Differenzierung über das Land, wie zum Beispiel das 9-Euro-Ticket für alle im vergangenen Sommer oder die Sprit- oder Gaspreisbremsen für alle, statt Wohlhabende den vollen Preis für ihren Konsum zahlen zu lassen und dafür Bedürftige umso stärker zu entlasten.
Solche Fehler nicht wiederholen
DDR-Fehler wie einen Mietpreisstopp und die daraus folgende Bau- und Sanierungsblockade muss man wirklich nicht wiederholen. Auch nicht das Experiment „Vergesellschaftung“. Diese Erfahrung, wie niedrige Preise zu Verschwendungsexzessen (von Strom, Benzin, Wasser, Lebensmitteln etc.) führen, braucht kein Mensch noch einmal.
Für die im Rohnstock-Salon versammelten Wirtschaftsexperten ist klar, welches Prinzip bei der Preisgestaltung angeraten ist: Nicht Waren soll man subventionieren, sondern Personen. Wer bedürftig ist, der bekommt. Und: Preise sollen steigen dürfen, aber in regulierten, nicht in wilden Verfahren. Man erkennt derzeit im deutschen Politikdiskurs Ansätze, die Bereiche der Daseinsvorsorge wie Gesundheit nicht länger so hemmungsarm wie bisher dem Markt, also der Gewinnorientierung, zu überlassen.
Natürlich, da widerspricht keiner, habe die DDR mit ihrer zwanghaften Regulierung, überzentralisierten Planung, ihrer an Dogmen orientierten Preispolitik überzogen. Das politische System habe sich letztlich als unfähig zur Anpassung erwiesen.
Und dann die Anekdötchen
So schwierig und technisch die Begriffe und Debatten im Expertensalon sein mögen: Die Freude an der Anekdote lebt wie zu DDR-Zeiten. Zum Beispiel: Was passierte, als die Fachleute im Amt für Preise versuchten, die Miete für die stark begehrten Wohnungen in den neuen Hochhäusern auf der Fischerinsel von 1,20 Mark pro Quadratmeter auf 2,40 Mark anzuheben? Der Preis hätte niemandem der dort lebenden DDR-Elite aus Kunst, Kultur, Wissenschaft und auch Medien wehgetan.
Kaum aber war die Änderung in Kraft, so erinnert sich Domagk, kam ein Anruf von „oben“, meist aus der vierten Etage des Gebäudes des Zentralkomitees der SED am Werderschen Markt. Dort saßen die Abteilung Planung und Finanzen des ZK der SED sowie der Sekretär für Wirtschaft Günther Mittag. „Wenn den hohen Herren etwas nicht passte, wurde das sofort vom Tisch gewischt“, erinnert sich Domagk. So auch in diesem Fall.
Einmal kam ein Anruf vom Berliner SED-Bezirkschef Günter Schabowski, dem das Radeberger Bier im für gehobene Wünsche und ausländische Touristen eröffneten Chinarestaurant in der Friedrichstraße mit fünf Mark zu teuer war. Winzige Beispiele für das Scheitern von Reformversuchen. Letztendlich, so Domagk, lauter Sargnägel für den Untergang der DDR.