Nord Stream: Sind die neuen Berichte ein Ablenkungsmanöver der USA?

US-amerikanische Geheimdienste verdächtigen eine „proukrainische Gruppe“ hinter den Anschlagen auf die Pipeline. Lücken in den Berichten lassen viel Deutungsspielraum.

Russisches Gas schießt aus der Tiefe der Ostsee. Wer hat die Pipeline der Nord Stream 2 gesprengt?
Russisches Gas schießt aus der Tiefe der Ostsee. Wer hat die Pipeline der Nord Stream 2 gesprengt?Dänisches Verteidigungsministerium

Wer steckt hinter den Anschlägen auf die Gaspipelines Nord Stream und Nord Stream 2? Einen Monat nach der spektakulären Recherche des US-Investigativjournalisten Seymour Hersh haben die New York Times und Die Zeit parallel ihre Versionen veröffentlicht.

Beide Versionen unterstützen die These, dass nicht Washington, sondern eine „proukrainische Gruppe“ für die Anschläge im September verantwortlich sei. Die US-Zeitung beruft sich auf amerikanische Geheimdienste und lässt die Frage, ob es die Ukrainer selbst oder doch kremlkritische Russen waren, offen. Die Zeit bezieht sich ihrerseits auf deutsche Ermittlungsbehörden und behauptet, dass die Spuren „in die Ukraine“ führen. Laut dem Zeit-Bericht sollen die Täter zudem ein Boot in Polen gemietet haben, bei einer Firma, die zwei Ukrainern gehören soll.

Lücken in neuen Berichten zu Nord-Stream-Sprengung

Die Berichte unterscheiden sich partiell und haben zudem erhebliche Lücken. Zum Beispiel haben die US-Geheimdienste keine Angaben dazu gemacht, woher die Informationen stammen und welche Gruppe konkret die Anschläge verübt haben soll. Stattdessen betonten die Behörden, dass keine amerikanischen oder britischen Staatsangehörigen involviert waren.

In polnischen Medien werden mittlerweile die Zweifel daran ausgesprochen, dass „eine kleine Jacht mit ein paar Leuten an Bord in der Lage wäre, den Saboteuren wirksame Unterstützung zu leisten“. Es wird darauf hingewiesen, dass eine Sprengung von Nord-Stream-Pipelines eine komplizierte Operation gewesen sei, für die man eine spezielle Ausrüstung und ein ordentliches Boot zum Einsatz gebracht haben müsste.

Die vage Beweisbasis lässt den Journalisten auf jeden Fall einen Deutungsspielraum. Man könne zwar argumentieren, schreibt die spanische Zeitung El Confidencial, dass die Ukraine daran hätte interessiert sein können, die Infrastruktur zu zerstören, die ihren Erzfeind Russland mit ihrem Verbündeten, der Europäischen Union, verbunden habe.

Aber es gebe auch andere Interpretationsmöglichkeiten, was das Informationsleck der Geheimdienste an die US-Presse angehe, schreibt der Autor Argemino Barro. Er weist darauf hin, dass die Biden-Regierung manchmal, genauso wie ihre Vorgänger, Nachrichten zu einem strategischen Zweck an die Presse weiterleite. Washington unterstütze die Regierung in Kiew zwar gerne mit Rat und Tat, sende aber auch mediale Botschaften.

„Proukrainische Gruppe“ oder doch die USA?

Im Oktober des letzten Jahres berichtete zum Beispiel der US-Sender NBC News unter Berufung auf Regierungsbeamte, dass Präsident Biden in einem Telefonat mit dem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj im Juni die Beherrschung verloren habe, weil die Regierung in Kiew bei Waffenlieferungen offenbar zu fordernd gewesen sein soll. Selenskyj könnte „etwas mehr Dankbarkeit zeigen“, soll Biden dabei gesagt haben.

Noch früher, Anfang Oktober ließen die US-amerikanischen Geheimdienste durchsickern, dass die Ukrainer wahrscheinlich hinter dem Mord an der „Kriegspropagandistin“ Darja Dugina stecken würden, der Tochter des berüchtigten Ideologen Alexander Dugin. Vielleicht wollten die US-Geheimdienste bewusst die Welt darüber informieren, dass die Ukrainer hinter dem Anschlag stecken, damit so etwas nicht noch einmal passiert? Das vermutet zumindest der spanische Journalist.

Nicht zuletzt könnte die Andeutung der US-Geheimdienste, es handle sich um eine proukrainische Gruppe beim Nord-Stream-Anschlag, auch ein Vorwand sein, schreibt der Autor weiter. „Es könnte auch ein Weg sein, der öffentlichen Meinung ein Brett vor dem Kopf einzumontieren, sie abzulenken und den Verdacht zu zerstreuen, dass die Täter der Nord-Stream-Sabotage in Wirklichkeit die Amerikaner selbst waren.“

Zur Unterstützung dieser These beruft sich Argemino Barro auf die Recherche von Seymour Hersh und die Aussagen des US-amerikanischen Geopolitikers Rajan Menon gegenüber El Confidencial, wonach es verschiedene Fraktionen innerhalb der US-Regierung gebe, die unterschiedliche Interessen vertreten. Einige würden die Presse nutzen und Leaks durchstechen, um das Narrativ zu kontrollieren. Die Hypothese, dass es vermutlich die Ukrainer waren, ob mit oder ohne Zustimmung der Regierung von Selenskyj, wurde bereits öffentlich von Personen unterstützt, die den Republikanern nahestehen, darunter von der ehemaligen Beraterin von Präsident Donald Trump für europäische und russische Angelegenheiten, Fiona Hill.

Nationalität der Täter weiterhin unbekannt

Der spanische Journalist geht allerdings nicht auf den Zeit-Bericht ein. Demnach wollen deutsche Behörden wohl unabhängig von den USA ermittelt haben, dass die sechs Tatverdächtigen ein Segelboot bei einer zwei Ukrainern gehörenden Firma gemietet haben sollen. Allerdings machen auch deutsche Ermittlungsbehörden keine Angaben zur Nationalität der Täter. Sie hätten professionell gefälschte Reisepässe genutzt, heißt es.

Ein Punkt der Kritik am Zeit-Bericht war es auch, dass es unklar ist, wie die Segeljacht – und Die Zeit berichtet über eine Jacht – am 6. September 2022 von Rostock aus in See gestochen sein soll und bereits am Folgetag nach der Platzierung der Bomben in Wieck (Darß) gesichtet wurde. Zwischen Rostock und den Sprengstellen bei Seemeilen liegen zwischen 170 bis 180 Seemeilen: Eine moderne Segeljacht benötigt dafür nach Experteneinschätzungen unter idealen Bedingungen mindestens 15 Stunden.

Hinzu kämen wenigstens ein paar Stunden für die Platzierung der Bomben und eine lange Rückfahrt in den Hafen von Wieck (Darß), der vom Festland getrennt ist und von der Ostsee her nur über eine etwa 4,5-stündige Anfahrt zu erreichen ist. Die Zeit-Autoren haben diese Angabe inzwischen korrigiert: Es handelt sich nicht um Wiek am Darß, sondern um Wiek auf Rügen. Unter guten Bedingungen ist der dortige Hafen von den Sprengstellen in mindestens neun Stunden zu erreichen.

Die Bundesanwaltschaft hat inzwischen mitgeteilt, bereits im Januar ein weiteres Schiff, das die Sprengstoffe transportiert haben soll, durchsucht zu haben. Es soll bei einem deutschen Unternehmen gemietet worden sein. Angaben zu Tätern oder Tatmotiven gibt es jedoch nicht.

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