Streiks in Frankreich sollen Deutschland „Paroli bieten“
Beschäftigte in Frankreich wehren sich gegen Rentenreform nach deutschem Vorbild.

Die Proteste gegen die Anhebung des Renteneintrittsalters in Frankreich gehen weiter.
In Paris, Saint-Étienne, Straßburg, Amiens, Caen und Toulouse kam es laut Franceinfo in der Nacht zu Dienstag zu spontanen Demonstrationen. Für Donnerstag sind weitere Streiks und Proteste gegen das Gesetz geplant. Die Gewerkschaften riefen am Montagabend dazu auf, die Mobilisierung zu verstärken, und zwar so lange, bis die Reform zurückgenommen werde, hieß es in einem Aufruf der Gewerkschaft CGT.
Vergangenen Donnerstag hatte die Regierung in letzter Minute entschieden, das Gesetz, das die Erhöhung des Renteneintrittsalters von derzeit 62 auf 64 Jahre vorsieht, mit einem Sonderartikel der Verfassung ohne Abstimmung durch die Nationalversammlung zu drücken. Am Montag überstand die Regierung ein von der Opposition eingebrachtes Misstrauensvotum denkbar knapp mit gerade einmal neun Stimmen.
Späte Rente für Schichtarbeiter
Rente mit 64? In Deutschland würden Arbeitnehmer aufatmen. Hierzulande wird bereits über die Rente mit 69 diskutiert. Tatsächlich beginnt der Ruhestand im Schnitt in Frankreich aber erst mit 64,5 Jahren und damit später als im EU-Durchschnitt, der bei 63,9 Jahren liegt. Wer für eine volle Rente nicht lange genug eingezahlt hat, arbeitet länger. Mit 67 Jahren gibt es dann unabhängig von der Einzahldauer Rente ohne Abschlag – dies will die Regierung beibehalten.
Besonders hart trifft die „Reform“ Beschäftigte in Schichtarbeit, die bislang Sonderregelungen unterworfen waren. Dazu gehören unter anderem die Pariser Metrofahrer, die mit 52 Jahren in Rente gingen, aber zukünftig bis 64 durchhalten müssen. Betroffen sind auch Pfleger und Krankenschwestern, die in den letzten Jahren während der Corona-Pandemie unter besonders harten Arbeitsbedingungen litten.
Was treibt Macron dazu, sich mit der organisierten Arbeitnehmerschaft des Landes anzulegen? Eine Antwort findet man in Deutschland. Vor 20 Jahren setzte die Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) die Agenda 2010 durch. Deutschland sollte wettbewerbsfähiger werden. Der Preis dafür war die drastische Absenkung des Lohnniveaus durch die Einführung von Hartz IV.
Kampf um Kostenvorteile
Heiner Flassbeck war beim Antritt der Schröder-Regierung 1998 Staatssekretär im Bundesfinanzministerium. Er trat zusammen mit seinem Chef, Oskar Lafontaine, aus Protest gegen die Agenda 2010 zurück. Für Flassbeck besteht ein Zusammenhang zwischen der deutschen Agenda-Politik und der französischen Rentenreform. „Seit der Agenda 2010 hat Deutschland einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Frankreich“, erklärte Flassbeck im Gespräch mit der Berliner Zeitung. Macron wolle zu Deutschland aufschließen, indem er versuche, die Lohnstückkosten zu senken.
Unter Lohnstückkosten sind die Arbeitskosten der Unternehmer pro produzierter Einheit zu verstehen. Zu den Arbeitskosten zählen neben dem Bruttolohn die Arbeitgeberanteile an den Sozialbeiträgen, Aufwendungen für Aus- und Weiterbildung sowie als Arbeitskosten geltende Steuern. Im Jahr 2021 lagen die Lohnstückkosten in Frankreich sechs Prozent über denen deutscher Unternehmen. Indem die französische Regierung die Arbeitszeit der Beschäftigten verlängert, setzt sie eine indirekte Kürzung der Rentenbezüge und damit geringere Arbeitskosten für die Unternehmer durch.
Deutschland konnte durch die Agenda 2010 seine Leistungsbilanzüberschüsse enorm ausweiten. Die Absenkung der Lohnstückkosten ermöglichte es, günstiger als das Ausland zu produzieren. 2005 überstiegen die Exporte der Deutschen Wirtschaft die Importe um den Saldo von rund 107 Milliarden Euro, 2021 hatte sich der Leistungsbilanzüberschuss mit 247 Milliarden Euro mehr als verdoppelt. Einen weiteren Exportweltmeister kann es auf den Weltmärkten nicht geben. „Die USA würden einen noch höheren Leistungsbilanzüberschuss der EU nicht tolerieren“, sagte Flassbeck der Berliner Zeitung. Washington ist das deutsche Exportmodell schon lange ein Dorn im Auge. US-Präsident Joe Biden hat im August 2022 den Inflation Reduction Act verabschiedet, der unter anderem Importrestriktionen für europäische Firmen vorsieht.
Macrons Strategie sei zum Scheitern verurteilt, wenn er versuche, mit dem deutschen Exportmodell gleichzuziehen, ist Flassbeck überzeugt. Schließlich müsste er die Lohnstückkosten unter das Niveau Deutschlands drücken. „Das würde den europäischen Binnenmarkt vollkommen ruinieren.“ Vielmehr brauche es in Europa eine „Koalition der Willigen“, die dem deutschen Wirtschaftsmodell „Paroli bieten“.