Talentmangel und Entlassungen in der Tech-Branche: Sind mehr Frauen die Lösung?
In der Tech-Industrie klafft eine riesige Lücke, ihr fehlen Talente. McKinsey hat in einer Studie nach einer Lösung für die Krise gesucht.

Die Unternehmensberatung McKinsey hat eine neue Studie auf den Markt gebracht: „Frauen in der Tech-Branche: Die beste Lösung für den Talentmangel in Europa“. Wie der Name schon sagt, soll eine erhöhte Frauenquote in Europa dem Arbeitskräftemangel im Technologieumfeld entgegenwirken.
Nur: Werden nicht gerade weltweit zahlreiche Stellen in der IT-Branche abgebaut?
Die Rezession hinterlässt ihre Spuren. Die Big-Tech-Unternehmen, darunter Microsoft, Google, Meta, Amazon und Alphabet, befinden sich in einer Kündigungswelle mit mehreren 10.000 Entlassungen. Bislang kann sich nur Apple den Massenentlassungen entziehen. Grund sei laut Wall Street Journal eine niedrigere Einstellungsrate bei dem Unternehmen. Dafür gebe es jedoch andere Kürzungen, etwa die Abschaffung des kostenlosen Mittagessens für Mitarbeiter.
Bei den Start-ups habe die Kündigungswelle bereits im Herbst begonnen, so Heike Marita Hölzner, Professorin für Entrepreneurship und Mittelstandsmanagement der HTW Berlin. Es gebe eine allgemeine Unsicherheit am Markt. „Start-ups bekommen, wenn überhaupt, Geld zu schlechteren Konditionen als noch im Vorjahr“, sagt sie der Berliner Zeitung. Die Folgen habe man bereits Ende 2022 bei zahlreichen jungen Unternehmen gesehen. Das prominenteste Beispiel sei Klarna. Der Zahlungsanbieter hat zwischen zwei Finanzierungsrunden circa 85 Prozent seines Firmenwertes verloren.
Den Ton geben die Start-ups an
Um länger mit vorhandenen Mitteln auszukommen und kein neues Geld aufnehmen zu müssen, sparen die Start-ups Personalkosten ein. Weniger Mitarbeiter heiße aber auch weniger Entwicklungsfortschritt. Dadurch nehme der Innovations- und Wettbewerbsdruck, den Start-ups allgemein auf die großen Konzerne ausüben, ab. Gepaart mit einem angespannten Konsumklima führt es laut Hölzner dazu, dass auch Big-Techs ihre Wachstumsziele korrigieren und selbst Mitarbeiter entlassen. Das sei aber nur vorübergehend und ändere nichts am allgemeinen Fachkräftemangel.
Laut der McKinsey-Studie fehlen der deutschen Technologiebranche bis 2027 ganze 780.000 Arbeitskräfte. Die steigende Nachfrage nach Tech-Talenten könne nicht von der Männerwelt gedeckt werden. Ein erhöhter Frauenanteil soll demnach diese Lücke füllen und damit gleichzeitig Europas BIP steigern. Gelingt es den 27 EU-Mitgliedstaaten, den Frauenanteil in Tech-Berufen von derzeit 22 Prozent auf 45 Prozent zu verdoppeln, könne sich das BIP um bis zu 600 Milliarden Euro erhöhen.
Das heißt: Entlassungen auf der einen Seite, erhöhte Nachfrage auf der anderen – wie passt das zusammen?
Die jetzigen Kündigungen korrelieren nicht mit der Studie: „Die Entwicklungen bei den großen Tech-Unternehmen sind eine kurzfristige Reaktion auf die global-ökonomischen Herausforderungen und finden aktuell vor allem in den USA statt“, sagt Melanie Krawina, McKinsey-Beraterin und eine der Co-Autorinnen der Studie. Zudem seien bei der Kündigungswelle der Big Tech alle Unternehmensbereiche betroffen, nicht bloß die Mitarbeiter in Technologierollen. Wer jetzt schnell handelt, kann das frei werdende Angebot an Arbeitskräften abfangen. „Europas Tech-Talentpool war praktisch leer. Plötzlich bieten sich hiesigen Unternehmen ungeahnte Personalchancen und Technologietalenten neue Entwicklungsmöglichkeiten.“
Frauen als Lückenbüßer
Die langfristige Lösung für den Mangel sollen laut McKinsey die Frauen sein. Dass nur wenige unter ihnen sich für technologiebasierte Jobs interessieren, liege nicht an der Schulausbildung. „Während der Grund- und Sekundarschulbildung gibt es keine Hinweise darauf, dass Jungen besser in Mathe oder Informatik sind als ihre Klassenkameradinnen“, sagt Krawina. Erst beim Einschreiben in universitäre MINT-Studiengänge (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) oder in IKT-Disziplinen (Informations- und Kommunikationstechnik) breche der weibliche Anteil erstmals ein. Der Frauenanteil bei Bachelor-Abschlüssen in MINT-Fächern liege in Deutschland mit 22 Prozent unter dem EU-Schnitt (32 Prozent).
Auch für Heike Marita Hölzner, die das Gründerinnen- und Investorinnenetzwerk „encourageventures“ mitgegründet hat, braucht Deutschland mehr Frauen in der Technologiebranche. Von allen Menschen, die sich in Deutschland vorstellen könnten, ein Start-up zu gründen, seien 40 Prozent weiblich. Am Ende des Tages habe man aber nur 20 Prozent Gründerinnen. „Da schlummert ein riesengroßes Potenzial, was wir als Gesellschaft momentan nicht gut aktivieren können“, so Hölzner.
Ändere sich an diesem Ungleichgewicht nichts, werde sich langfristig die Situation auf dem Markt verschärfen. Die Entlassungswelle in den USA sei eine vorübergehende Phase. Sobald der Arbeitsmarkt wieder anzieht, wird laut Hölzner die Lücke an Fachkräften noch größer. Sie sagt: „Wir können es uns in Deutschland als Industrienation und Wissensgesellschaft nicht leisten, das Potenzial der Gründerinnen und Frauen in Technologieberufen liegen zu lassen.“