Die Ukraine braucht sehr viel Geld - Russland soll für den Krieg bezahlen

Finanzminister Marchenko schlägt vor, dass der Westen in die Vorfinanzierung geht. Kiew braucht mindestens 500 Milliarden Dollar.

09.04.2022, Ukraine, Kiew: Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, spricht während eines Interviews mit der Nachrichtenagentur Associated Press in seinem Büro in Kiew.
09.04.2022, Ukraine, Kiew: Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, spricht während eines Interviews mit der Nachrichtenagentur Associated Press in seinem Büro in Kiew.AP/Evgeniy Maloletka

Für den ukrainischen Finanzminister Sergii Marchenko steht fest: Russland müsse für alle Schäden, die es durch den Angriffskrieg gegen das Nachbarland verursacht hat, Reparationen zahlen. Marchenko sagte dem TV-Sender Sky, der Wiederaufbau werde mindestens 500 Milliarden Dollar kosten. Es sei die Entscheidung Russlands gewesen, die Ukraine anzugreifen, also müsse Moskau auch die Kosten tragen. Zu diesem Zweck sollten nicht nur die aufgrund der westlichen Sanktionen eingefrorenen Assets der russischen Banken und insbesondere auch die Assets der russischen Zentralbank in die Ukraine transferiert werden. Auch das Geld auf gesperrten Konten der „russischen Oligarchen“ sollte umgeleitet werden, ebenso die Einnahmen aus russischem Öl und Gas. Doch wegen des hohen Finanzbedarfs muss die Ukraine schneller an Geld kommen. Daher schlug Marchenko in einem Interview mit der Financial Times (FT) vor, eine Finanz-Rochade über den Internationalen Währungsfonds (IWF) vorzunehmen. Dieser hatte im August 2021 wegen der Pandemie eine ungewöhnliche Maßnahme ergriffen und die Staaten mit zusätzlicher Liquidität versorgt: Der Verwaltungsrat des IWF hatte in Washington die Zuteilung neuer Sonderziehungsrechte (SZR) an seine 190 Mitgliedstaaten bewilligt. Um „der globalen Krise gemeinschaftlich und entschlossen entgegenzutreten“, wurden zum 23. August die Währungsreserven im Gegenwert von 650 Milliarden US-Dollar aufgestockt. Die SZR sind eine Art Buchgeld, mit der die Staaten in kritischen Zeiten zusätzlichen finanziellen Spielraum erhalten. Die Größenordnung der am 23. August erfolgten Allokation von SZR war „wie die zu bewältigende Krise in der Geschichte des IWF beispiellos“, so der Fonds damals. Deutschland habe sich im von den USA dominierten IWF seit Ausbruch der Krise für eine solche SZR-Allokation eingesetzt. Es sei wichtig, dass der IWF nicht nur Kredite an die Länder vergibt, die sie benötigen, sondern auch dafür sorgt, dass die Länder eigene Reserven haben.

Marchenko: Die Mitglieder der G7-Gruppe sollen „spenden oder verleihen“

Das Sonderziehungsrecht ist ein 1969 vom IWF eingeführtes Reserveguthaben, ein Anspruch auf frei verwendbare Währungen der IWF-Mitglieder. Ein höherer Bestand an SZR verschafft allen IWF-Mitgliedstaaten zusätzlichen finanziellen Spielraum. Bislang hat der IWF die SZR aller Mitgliedstaaten dreimal aufgestockt. Eine allgemeine Zuteilung beziehungsweise allgemeine Allokation gab es nach Angaben des IWF zuletzt 2009. Während der globalen Finanzkrise wurden SZR im Gegenwert von 250 Milliarden US-Dollar geschaffen.

Viele Staaten haben das Geld allerdings zur Pandemiebekämpfung gar nicht gebraucht, weil das Geld nicht danach verteilt wird, wo die größte Not herrscht: Da SZR jedoch proportional zu den IWF-Quoten zugeteilt werden, die ungleich verteilt sind, erhielten Länder mit niedrigem Einkommen nur etwa 21 Milliarden US-Dollar. Trotz späterer Zusagen der G20 und G7, Pläne vorzulegen, um 100 Milliarden US-Dollar ihrer SZR an Entwicklungsländer weiterzuleiten, wurde in der Praxis kein Cent überwiesen und rund 400 Milliarden US-Dollar der neu zugewiesenen SZR bleiben ungenutzt, wie das European Network on Debt and Development analysiert. Es sei dringend nötig, dass dieses Geld vor allem für arme und Entwicklungsländer zum Einsatz komme.

Diese Idee greift Marchenko nun auf: Die Mitglieder der G7-Gruppe der größten Volkswirtschaften der Welt hätten rund 290 Milliarden Dollar an SZR erhalten. Von diesen sollten sie nun, so Marchenko, zwischen fünf und zehn Prozent für die Kriegsanstrengungen der Ukraine „spenden oder verleihen“: „Die SZR-Zuteilung wurde nicht genutzt, viele Länder haben sie einfach geparkt“, sagte er. „Es ist wahrscheinlich die einfachste Form der Unterstützung für die Ukraine.“ Marchenko sagte, die Länder könnten praktischerweise ein Spezialkonto nutzen, welches der IWF am Freitag für die Ukraine eröffnet habe, um Zuschüsse, Spenden und Kredite an Kiew sicher weiterzuleiten – um der Ukraine zu helfen, „ihre Zahlungsbilanz und ihren Haushaltsbedarf zu decken und zur Stabilisierung ihrer Wirtschaft beizutragen“, so der IWF.

Das Problem der Ukraine-Hilfe aus ukrainischer Sicht besteht nämlich darin, dass viele „Hilfen“ direkt an Unternehmen des Westens ausgezahlt werden, etwa an die Rüstungsindustrie. Die Ukraine profitiert dann davon, dass sie ein großer Ansatzmarkt für westliche Exporte ist. Im März etwa genehmigte der US-Kongress 13,6 Milliarden Dollar an militärischer und humanitärer Hilfe für die Ukraine und andere vom Krieg betroffene Länder. Marchenko sagte, die Ukraine würde von diesem Geld „keinen Cent erhalten“, weil es in Form von direkter Hilfe statt in bar bereitgestellt würde. „Das sei keine direkte Budgethilfe. Wir können das Geld nicht verwenden, um das Defizit zu füllen“, sagte Marchenko der FT.

Die Ukraine hat bereits enorme Staatsschulden

Hier liegt eines der Hauptprobleme für die Regierung in Kiew: Die Ukraine hat bereits enorme Staatsschulden. Wegen der zahlreichen Privatisierungen hat das Land allerdings kaum noch Einnahmequellen. Die Energiepreise sind seit 2014 explodiert. Volksvermögen floss seit 2008 in Offshore-Firmen von ausländischen Unternehmern. Der Sozialstaat wurde auf Druck des IWF auf ein Minimum zurückgefahren, um Reformen zu gewährleisten. Die Arbeitsmigration ist seit vielen Jahren hoch, die Ukraine liegt weltweit auf dem achten Platz der am meisten verlassenen Länder.

Seit Jahren hängt die Ukraine am Tropf des IWF - was bereits im November 2011 zu Verwerfungen führte. Die Zeitung Kommersant Ukraine zitierte damals eine dem Finanzministerium nahestehende Quelle, die über die zunehmende Skepsis des IWF gegenüber den ukrainischen Behörden Auskunft gibt: „Während die IWF-Angestellten früher zu den Verhandlungen in guter Stimmung kamen und unseren Daten vertrauten, so ist in ihrem Verhalten jetzt eine gewisse Gereiztheit bemerkbar, sie überprüfen alle Informationen, die wir ihnen vorlegen.“ Die damalige Regierung spielte wegen der Spannungen mit den westlichen Geldgebern sogar mit dem Gedanken, sich Finanzhilfe aus China zu holen.

Seit dem Krieg hat sich die Lage dramatisch verschärft: Die Wirtschaft produziert höchstens noch die Hälfte dessen, was zuvor hergstellt worden war. Die bisher vom IWF, der Weltbank und der EU gewährten Kredite werden fast ausschließlich dazu verwendet, die Auslandsschulden zu bedienen. Alexander Krawtschuk, ukrainischer Redakteur der Zeitschrift Commons: Journal of Social Critique, sagte der US-Zeitschrift Jacobin, die Ukraine werde nach dem Krieg „nicht nur mit kaputt gebombter Infrastruktur, sondern auch mit riesigen Staatsschulden dastehen“.

Die Option einer Umschuldung sei für die ukrainische Wirtschaft ungeeignet und wäre laut Krawtschuk eher im Interesse der Gläubiger: „Nach dem Kriegsausbruch im Jahr 2014 wurde schon einmal so vorgegangen: 2015 wurden einige der Zahlungen an kommerzielle Kreditgeber um drei Jahre aufgeschoben und 20 Prozent der Kreditsumme abgeschrieben. Doch zu welchem Preis? 15 Prozent des BIP-Anstiegs über drei Prozent und 40 Prozent des BIP-Anstiegs über vier Prozent musste die Ukraine an ihre Gläubiger abtreten. Wir konnten unsere Schulden schon vor dem Krieg kaum noch bedienen. Die Bedingungen der Kredite müssen daher transparent überprüft werden.“ Eine solche Entwicklung wäre laut Jacobin v„on zentraler Bedeutung, um zu gewährleisten, dass die ukrainische Bevölkerung in Zukunft nicht noch abhängiger von Gläubigern und Oligarchen ist, sobald das Land seinen Frieden wiedererlangt hat“.