Widerstand gegen LNG-Terminal vor Rügen: „Unsere Lebensgrundlage ist bedroht“

Die Ostseeinsel ist in Aufruhr gegen die Pläne von Wirtschaftsminister Habeck. Das Ostseebad Sellin wäre direkt betroffen. Der Bürgermeister erklärt die Lage.

Seebrücke in Sellin auf Rügen. Wird man von dort bald auf ein riesiges LNG-Terminal blicken?
Seebrücke in Sellin auf Rügen. Wird man von dort bald auf ein riesiges LNG-Terminal blicken?Eibner/imago

Seit Deutschland kein Gas mehr aus Russland bezieht, sichert der Import von Flüssigerdgas, sogenanntem LNG (Liquefied Natural Gas), die Energieversorgung mit. LNG wird von Tankschiffen transportiert und in Terminals wieder in einen gasförmigen Zustand umgewandelt. In Norddeutschland sollen eine ganze Reihe solcher Terminals entstehen – eins davon vor der Insel Rügen, ausgerechnet an der Küste vor den Ostseebädern Sellin, Baabe und Binz.

Seit die Pläne bekannt sind, ist die ganze Insel in Aufruhr. Reinhard Liedtke, Bürgermeister von Sellin, erklärt, was die Inselbewohner befürchten. Und was er Robert Habeck gern zeigen würde.

Herr Liedtke, wann haben Sie erfahren, dass vor dem Strand von Sellin ein LNG-Terminal gebaut werden soll?

Anfang Februar gab es das erste Informationsgespräch durch den Vorhabenträger, den Energiekonzern RWE, der im Auftrag der Bundesrepublik, von Wirtschaftsminister Robert Habeck, die Planung hier begleitet. Da haben wir Bürgermeister und Kurdirektoren davon erfahren.

Es soll mit dem Bau ganz schnell gehen.

Das wurde da bekannt. Im Februar! Da wurden wir auch zum ersten Mal mit dem LNG-Beschleunigungsgesetz konfrontiert, das nur sehr kurze Fristen für Reaktionen vorsieht. Bis zum 6. März haben die Bürger Zeit, Einwendungen vorzubringen. Und zwar deutschlandweit, jeder Bürger kann sich melden. Kleiner Tipp: Die Einwendungen sollten nicht den genau gleichen Wortlaut haben, also gern ein bisschen verschieden formulieren. Die Gemeinden haben bis zum 17. März Zeit, ihre Einwendungen geltend zu machen.

Im Mai soll schon der Aushub für den Bau beginnen. Im Sommer könnte vor Rügen gebaut werden.

Das war die Zielstellung. Ich glaube, dass die Bundesregierung, in diesem Fall das Umweltministerium, nicht mit so massivem Widerstand gerechnet hat. Unsere Bedenken sind so erheblich, dass man, glaube ich, uns auch folgen wird.

Der LNG-Shuttle-Tanker „Coral Favia“ liegt vor der Hafenstadt Sassnitz auf Rügen vor Anker.
Der LNG-Shuttle-Tanker „Coral Favia“ liegt vor der Hafenstadt Sassnitz auf Rügen vor Anker.Stefan Sauer/dpa

Was genau sehen die Pläne vor? Wie soll das Terminal aussehen?

Im Moment läuft das Planfeststellungsverfahren in drei Schritten. Der erste Schritt ist die neue Ostsee-Pipeline, die von Lubmin bis hier vor Sellin gebaut werden soll. Der zweite und dritte Schritt sind der Bau einer Offshore-Plattform, ähnlich wie wir das von den Windmühlen in der Ostsee kennen. Daran sollen dann vier sogenannte FRSU-Schiffe (Anmerkung: Floating Storage and Regasification Unit) anlegen, das sind diese großen Schiffe, die das Erdgas vom LNG-Tanker übernehmen, erwärmen und in die Leitung einbringen.

Jeder, der zu uns kommt, will den freien Blick auf die Ostsee genießen.

Reinhard Liedtke

Wie groß sind diese Schiffe?

Jedes dieser Schiffe ist 300 Meter lang, 50 Meter hoch, 43 Meter breit. In der Breitseite vor unserer Küste liegen dann zwei Schiffe, je 300 Meter, und gegenüber noch mal zwei. Das sieht aus wie eine riesige Industrieanlage. Und das ist das entscheidende Element, warum wir sagen: Das geht nicht, wir können hier nicht in ein sensibles Urlaubergebiet so eine Industrieanlage genehmigen.

Warum soll diese Anlage ausgerechnet bei Ihnen gebaut werden?

Das hat leider Gründe in der Natur. Es gibt eine eiszeitliche Strömungsrinne in der Ostsee, die hat leider hier bei uns 18 Meter Wassertiefe, dort können diese großen Schiffe anlegen. Das zweite Argument ist, dass Vorhaben nach LNG-Beschleunigungsgesetz nur im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgeführt werden dürfen. Deswegen muss das Ganze in einem Radius von fünf Kilometern vor unserer Küste gebaut werden.

Der Küstenabschnitt vor Sellin und Binz ist für den Tourismus auf Rügen der wichtigste, oder?

Absolut. Deshalb haben sich alle 32 Gemeinden auf der Insel positioniert und unterstützen uns. Alle Gemeindevertretungen sind einstimmig gegen das LNG-Terminal. Es hat einen Riesenaufschrei auf Rügen gegeben. Der Wirtschaftsausschuss des Landkreises hat sich am Montag einstimmig gegen das Terminal geäußert. Es findet eine Kreistagssitzung statt, wo es sicherlich das gleiche Votum geben wird. Die Bürgerschaft Stralsund hat sich mehrheitlich gegen das LNG-Terminal ausgesprochen. Wir freuen uns über die Solidarität.

Der LNG-Tanker „Avenir Ascension“ liegt im Hafen von Mukran in der Gemeinde Sassnitz auf der Insel Rügen. 
Der LNG-Tanker „Avenir Ascension“ liegt im Hafen von Mukran in der Gemeinde Sassnitz auf der Insel Rügen. Stefan Sauer/dpa

Was befürchten Sie, wenn das Terminal doch gebaut werden sollte?

Absolut negative Auswirkungen. Wir leben ja alle vom Tourismus. Jeder, der zu uns kommt, will den freien Blick auf die Ostsee genießen. Ist der verbaut, gibt es Lärm, Emissionen, dann haben die Leute kein ungestörtes Urlaubsgefühl mehr. Das geht nicht. Damit setzen wir alles aufs Spiel. Deswegen sind wir auch alle so konsequent dagegen. Die Naturschützer laufen auch Sturm.

Wieso befürchten Sie Lärm?

Wir haben einen kleinen Vorläufer vor Lubmin, da liegt ein solches Schiff, die Menschen aus Lubmin regen sich über Schallemissionen auf. Das befürchten wir hier auch. Und dann von vier Schiffen, Tag und Nacht.

Wir haben uns an Habeck direkt gewendet. Leider keine Antwort.

Reinhard Liedtke

Aber muss Deutschland nicht in Zukunft mit LNG versorgt werden, um nicht in eine neue Gaskrise zu geraten?

Wir Bürgermeister haben selbst noch im letzten Jahr von der Bundesregierung die Gassicherheit gefordert. Dazu stehen wir auch. Aber Deutschland plant jetzt neun Gasterminals, wo man anlegen kann. Da braucht es nicht ausgerechnet bei uns vor der Küste noch eins, das unsere Lebensgrundlage, den Tourismus, bedroht. Wir bekommen auch sehr viele E-Mails von Menschen, die darauf hinweisen, dass wir in Deutschland gar keine Gasmangellage mehr haben.

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Privat
Zur Person
Reinhard Liedtke, geboren 1958 in Binz auf Rügen, ist seit 30 Jahren ehrenamtlicher Bürgermeister der Gemeinde Sellin. Liedtke ist parteilos und tritt für die Selliner Wählergemeinschaft an.

Zu wie viel Prozent lebt Rügen vom Tourismus?

Ich würde sagen, zu fast 100 Prozent. Wir haben den Hafen Mukran, wir haben die Verwaltung, der Rest ist Tourismus. Jeder Zimmerer, Maler, Gastronom, Zulieferer – alle leben mehr oder weniger vom Tourismus. Die Sorge auf der Insel ist riesengroß. Wenn die Urlauber wegbleiben, sind wir komplett erledigt. Es melden sich auch schon viele Leute aus ganz Deutschland, schicken Mails: Können wir noch zu euch kommen? Wir machen uns Sorgen, können wir uns mit unserem Handtuch noch wie gewohnt an den Strand setzen?

Wie viele Urlauber kommen nach Sellin?

Wir haben 1,2 Millionen Übernachtungen im Jahr nur hier in Sellin. In der ganzen Bäderecke hier unten, mit Binz zusammen, sind wir bei 4,7 bis fast fünf Millionen Übernachtungen im Jahr.

Am Sonntag gab es sogar eine Demonstration auf Rügen.

Ich bin schon 30 Jahre im Amt. Eine Demo in Baabe, mit 2500 bis 3000 Leuten, und hier in Sellin mit 400 Leuten, so etwas habe ich noch nie erlebt. Niemand versteht das Vorhaben, zumal es Alternativen gibt. Wir haben auch gerade von Lotsen noch Warnrufe bekommen. Die Stationen vor der Küste müssen ja mit LNG versorgt werden. Da kommen dann noch mal vier Schiffe. An schlechten Tagen liegen da dann acht riesige Schiffe. Und die Zuliefererschiffe müssen alle durch die Kadetrinne in der Ostsee. Auf Schifffahrtskarten sieht man, was da jetzt schon los ist. Das ist natürlich auch ein erhebliches Sicherheitsrisiko. Wenn da mal etwas passiert, man möchte es gar nicht ausspinnen.

Was unternehmen Sie noch, um die Pläne aufzuhalten?

Wir haben Fachanwälte aus Hamburg, die uns mit den Stellungnahmen helfen. Die haben wir gemeinschaftlich als Gemeinden bezahlt, die sind natürlich nicht ganz billig. Wir hoffen, dass die Stellungnahmen dazu führen, dass das zuständige Bergamt das Terminal ablehnt.

Haben Sie sich schon direkt an Robert Habeck gewendet?

Ja, haben wir, an Habeck und an Olaf Scholz. Leider keine Antwort. Die Landesregierung hat sofort reagiert, muss ich sagen. Rainhard Meyer, der Wirtschaftsminister, Till Backhaus, der Landwirtschaftsminister, die kommen selber her, gucken sich das an und teilen unsere Bedenken. Habeck war noch nicht bei uns.

Wirtschaftsminister Robert Habeck steht vor dem schwimmenden LNG-Terminal „Hoegh Gannet“.
Wirtschaftsminister Robert Habeck steht vor dem schwimmenden LNG-Terminal „Hoegh Gannet“.Marcus Brandt/dpa

Was würden Sie dem Klimaschutz- und Wirtschaftsminister gern sagen?

Naja, er muss sich das mal angucken! Hier bei uns vor der Küste, an der Seebrücke von Sellin, direkt hier soll das hin? Das geht gar nicht. Wir haben ja einen Prototypen, ein 300-Meter-Schiff hier vor der Haustür, in der Bucht Sellin-Baabe. Da kommt dann ein zweites großes Schiff, übergibt LNG, und zwei kleinere Schiffe pendeln nach Lubmin, diesen Verkehr haben wir schon.

Wie kommt das bei Bürgern an?

Wir bekommen ständig Meldungen über vermeintliche Umweltverschmutzungen. Ob das von den Schiffen kommt, weiß keiner. Aber zu diesen Schiffen haben wir Ja gesagt, weil sie nicht fest sind, sondern schwimmen. Sie drehen sich mit dem Wind, so ist die Windlast nicht so groß. Und wenn sich die Gaslage entspannt, lichten sie die Anker und sind wieder weg. Liegt erst mal so eine Leitung, dann haben wir für die Zukunft einen Industriehafen vor der Küste. Nochmal: Das geht nicht.