Virtual-Reality-Brillen: Das erste Medium, bei dem das Medium selbst verschwindet

Berlin - Ich gleite mit einem Surfbrett über die Welle. Vor mir baut sich die blaue Wellenwand auf, hinter mir bricht sie tosend auf das Riff. Mein Instinkt sagt mir, mein Gewicht zu verlagern, um die Linie auf der Welle zu bestimmen. Doch das geht nicht. Ich stehe auf keinem Surfbrett, sondern sitze auf dem Sofa – mit einer Virtual-Reality-Brille, kurz VR-Brille. Ein 360-Grad-Video füllt mein Sichtfeld aus, egal wohin ich schaue.

Gear VR heißt die VR-Brille von Samsung, bei der man ein Smartphone des Herstellers einklemmt, das als Display der Brille fungiert. Die Gear VR, die wie eine wuchtig geratene Skibrille aussieht, ist das erste Gerät dieser Qualität, das erhältlich ist – und gibt einen Vorgeschmack darauf, was in diesem Jahr auf den Markt kommt. In Las Vegas, wo in dieser Woche die weltgrößte Unterhaltungselektronikmesse CES beginnt, wird die Virtuelle Realität eines der großen Themen werden. Die Hersteller sind überzeugt, dass die Technik 2016 ihren Durchbruch erlebt.

Ein mächtiges neues Medium entsteht: Wird VR-Technik richtig umgesetzt, hat man das Gefühl, an einem anderen Ort zu sein – nicht nur ein Video des anderen Ortes zu sehen. „Präsenz“ ist der Fachbegriff dafür, dass das Gehirn die Benutzung der VR-Brille soweit ausblendet, dass man das Gefühl hat, die virtuelle Realität tatsächlich zu erfahren. Es hilft nichts, dass man weiß, bloß im Wohnzimmer zu stehen und nicht am Rand einer Klippe. Die Beine wehren sich trotzdem dagegen, in den Abgrund zu treten. Die durch VR erzeugte Erfahrung spricht direkt die instinktive Ebene des Gehirns an.

Chris Milk, einer der Pioniere der VR-Filme, nennt Virtuelle Realität daher das letzte Medium. Es sei das erste Medium, bei dem das Medium selbst verschwindet, erklärte er kürzlich bei einer Diskussion. Man starre nicht mehr auf ein Rechteck an der Wand oder halte eine Seite in der Hand. Virtuelle Realität basiere darauf, direkt das audio-visuelle System des Gehirns zu manipulieren. Der Unterschied zu anderen Medien: „Sie müssen sich daran erinnern, nicht zu glauben, was Sie sehen.“ Den VR-Machern kommt dabei die Funktionsweise des Gehirns zugute: Wird eine gewisse Qualität der audio-visuellen Reize erreicht, ergänzt das Gehirn fehlende Signale. Selbst 360-Grad-Videos in mäßiger Qualität können so das Gefühl erzeugen, woanders zu sein.

VR-Rundgänge durch Luxusimmobilien

Tatsächlich ist die Gear VR weit davon entfernt, perfekt zu sein. Man erkennt einzelne Pixel und die Bildqualität vieler Videos ist mäßig. Auch erfasst die Brille nicht die Position des Trägers im Raum – noch nicht. In diesem Jahr wird jedoch eine ganze Reihe von Geräten auf den Markt kommen, die technisch ambitionierter, aber auch teurer sind als die Gear VR. Oculus, HTC oder Sony wollen dabei zunächst vor allem Computerspieler ansprechen. Das Beratungsunternehmen Digi-Capital geht davon aus, dass in den nächsten vier Jahren fast die Hälfte des VR-Umsatzes mit Spielen erzielt wird, knapp 14 Milliarden Euro im Jahr 2020.

Setzt sich VR durch, wird die Technik ganz andere Branchen erfassen: Die Porno-Industrie setzt darauf, dass ein neues Milliardengeschäft entsteht. Analysten glauben, dass virtuelle Showrooms den Besuch stationärer Geschäfte ablösen könnten. Der Immobilienarm der Sotheby’s-Gruppe produziert bereits VR-Rundgänge durch Luxusimmobilien in Kalifornien, so dass finanzkräftige Käufer nur noch einfliegen müssen, um den Vertrag zu unterschreiben.

Auch Facebook ist mit Oculus im Boot

Einen gewaltigen Nachteil gibt es dabei allerdings: Derzeit bleibt man noch alleine bei dem Erleben der anderen Realität. Doch das soll sich ändern. Oculus hat für Gear VR bereits eine App herausgebracht, die es mit bis zu sieben Personen ermöglicht, Video-Streams zu sehen – und sich mit ihnen darüber zu unterhalten. So etwas könnte schließlich Skype-Telefonate ablösen, indem man das Gefühl hat, mit dem Gesprächspartner im gleichen Raum zu sein.

Mark Zuckerberg ist davon überzeugt. Für knapp zwei Milliarden Euro übernahm Facebook im Jahr 2014 Oculus. „Stellen Sie sich vor, nicht nur Momente mit Ihren Freunden online zu teilen, sondern ganze Erlebnisse“, erklärte Zuckerberg die Entscheidung.

Ob die Technik dieses Versprechen einlösen kann, weiß niemand. Bewegungsübelkeit ist oft noch ein Problem. Klar ist nur, dass sich die VR-Apps stark ändern werden. „Die nächsten Jahrzehnte der Virtual-Reality-Entwicklung werden ähnlich sein wie bei den ersten Jahrzehnten des Films“, sagt Oculus-Investor Chris Dixon. Es dauerte Jahre, bis verstanden wurde, wie Filme geschnitten werden können. „Im Bereich Virtuelle Realität hat nun ein ähnliches Zeitalter des Entdeckens begonnen.“