Wirecard-Urteil: Müssen die Anleger jetzt ihre Dividende zurückzahlen?
Das Münchner Urteil zu Wirecard enthält gewisse Risiken für die Anleger. Doch deren Chancen, sich etwas von EY zurückzuholen, könnten gestiegen sein.

Das Landgericht München hat in einem Zivilverfahren die Bilanzen des Skandalkonzerns Wirecard der Jahre 2017 und 2018 für nichtig erklärt. Die Kammer gab am Donnerstag einer Klage des Insolvenzverwalters Michael Jaffé statt. Damit sind die Dividendenbeschlüsse für die beiden Jahre nichtig. Grundlage der Klage waren die mutmaßlichen Scheinbuchungen, mit denen Wirecard-Manager die Bilanzen um erfundene Milliardenbeträge aufgebläht haben sollen. Sollte das Urteil rechtskräftig werden, könnte der Insolvenzverwalter damit die von Wirecard für die beiden Jahre gezahlten Dividenden in zweistelliger Millionenhöhe von den Aktionären zurückfordern, ebenso von Wirecard gezahlte Steuern. Marc Tüngler von der Deutschen Schutzgemeinschaft für Wertpapierhandel (DSW) sagte der Berliner Zeitung, dass eine Rückzahlung der Dividende von den Anlegern nicht zu erwarten sei: „Der normale, gutgläubige Anleger muss nicht fürchten, dass ihm die Dividende weggenommen wird.“
Sollte der Insolvenzverwalter jedoch Forderungen an die Anleger stellen, werde die DSW „weiter energisch für die Anleger kämpfen“. Die gutgläubigen Anleger hätten auf die testierten Jahresabschlüsse vertraut, anders sei es bei Großaktionären wie dem damaligen CEO von Wirecard, Markus Braun: Man kann davon ausgehen, dass sich der Insolvenzverwalter von ihm einen Teil der 47 Millionen Euro zurückholen will, die insgesamt an Dividenden ausgeschüttet wurden. Auch größere Pensionsfonds müssen mit Rückzahlungsforderungen rechnen. Institutionelle Anleger hatten in Wirecard investiert, weil das Unternehmen als Dax-Titel automatisch zum Portfolio genommen werden musste.
Nach Einschätzung der Münchner Rechtsanwältin Daniela Bergdolt, die geschädigte Wirecard-Anleger vertritt, wird das Urteil für Kleinanleger „vermutlich folgenlos“ bleiben. Dies liege schon daran, dass die Wirecard-Aktien keine Namensaktien gewesen seien und der Insolvenzverwalter nun eine Kosten-Nutzen-Abwägung vornehmen müsse. Für Anleger, die Aktienpakete über den Schwellenwerten besaßen, die eine Meldepflicht nach sich zieht, sei es aber denkbar, dass sie zur Rückzahlung aufgefordert werden. Allerdings müsse der Insolvenzverwalter gegen jeden einzelnen Anleger klagen, um einen Rechtstitel zu erwerben.
Wirtschaftsprüfern dürfte Verschulden „sehr schwer nachzuweisen“ sein
Folgen könnte das Urteil allerdings für die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY haben, die die Wirecard-Bilanzen geprüft und testiert hatte. Etwa 1000 Aktionäre haben bereits gegen EY geklagt. Bei der DSW haben sich 30.000 Aktionäre registriert, die noch als Kläger gegen EY infrage kommen. Es geht laut Bergdolt um „viele Hundert Millionen Euro“, die die Kläger von EY fordern könnten. Rein der Papierform nach sind die Chancen gering, dass sich die betrogenen Aktionäre etwas bei EY zurückholen. Denn die Gesetzeslage ist dergestalt, dass die Prüfer nur bei Vorsatz oder grob fahrlässigem Handeln haften. Ein kausaler Zusammenhang dürfte im Wirecard-Fall allerdings schwer zu belegen sein. Laut Fabio De Masi, dem Linke-Politiker und Wirecard-Aufdecker, dürfte dies „sehr schwer nachzuweisen“ sein, weil schwerwiegende Fehlleistungen wie etwa der „vollständige Verzicht auf Prüfung“ vorliegen müssten, so De Masi auf Twitter.
Anwältin Bergdolt sagte der Berliner Zeitung dagegen: „Wir haben das vernichtende Wambach-Gutachten. Wir haben ein laufendes Strafverfahren. Und nun haben wir zwei nichtige Jahresabschlüsse. Die Chancen einer Haftung von EY sind deutlich gestiegen.“ Es spreche „verdammt viel“ dafür, dass bei EY „grobe Fehler“ gemacht worden seien. Nach Argumentation von Markus Braun sei das Geld „irgendwo ganz anders“, sagte DSW-Vizepräsidentin Daniela Bergdolt nach der Urteilsverkündung. „Aber auch dann ist die Buchhaltung, die Buchführung von Wirecard grottenfalsch gewesen.“ Dies hätten die EY-Prüfer „dann merken müssen“.
Neues Urteil dürfte zu Nachdenken führen
Ungeachtet der rechtlichen Fragen versucht hinter den Kulissen eine Stiftung geschädigter Anleger, die keine Rechtsschutzversicherung abgeschlossen haben, mit EY Deutschland und mit EY Global einen Vergleich zu schließen. Laut Bergdolt gäbe es den „Versuch“ einer Lösung, doch noch will EY sich nicht bewegen. Das Münchner Urteil dürfte jedoch bei EY zu einigem Nachdenken führen. Das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig, die Prozessstandschaft der Gesellschaft könnte Berufung einlegen, was jedoch allgemein nicht erwartet wird.
Wirecard war 2020 nach dem Eingeständnis von Scheinbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro zusammengebrochen, der frühere Vorstandschef Markus Braun sitzt seit bald zwei Jahren in Untersuchungshaft. Wirecard hatte 2017 und 2018 hohe Gewinne von zusammen mehr als 600 Millionen Euro ausgewiesen und 47 Millionen Euro an Dividenden ausgeschüttet.
Die Münchner Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die bis heute vermissten 1,9 Milliarden Euro frei erfunden waren. Der ehemalige Konzernchef Braun verteidigt sich dagegen mit dem Argument, die 1,9 Milliarden gebe es, das Geld sei aber andernorts verbucht gewesen.
Ob die fehlenden Milliarden nun existieren oder nicht, war für das Urteil gar nicht von Bedeutung, wie der Vorsitzende Richter Helmut Krenek erläuterte. Um die Bilanzen für nichtig zu erklären, genügte die Feststellung, dass das Geld nicht dort auffindbar war, wo es laut Wirecard verbucht war: auf Treuhandkonten in Singapur.
„Wenn es die Gelder gegeben hätte, hätten sie auch dort gefunden werden müssen“, sagte Krenek. „Wenn in zwei Jahren 1,9 Milliarden Euro fehlen, dann ist an der Wesentlichkeit des Fehlers eigentlich kein Zweifel anzunehmen.“ Weil damit die Wirecard-Bilanzen falsch waren, waren als „zwingende Folge“ auch die Dividendenbeschlüsse der Hauptversammlungen 2018 und 2019 nichtig.
Jaffè hatte in seiner Klage die Überbewertung der Wirecard-Bilanz im Jahr 2017 auf 743,6 Millionen und 2018 auf 972,6 Millionen Euro beziffert. Verklagt hatte der Insolvenzverwalter die Wirecard AG. Das Unternehmen existiert nur noch als rechtliche Hülle, die kein Geschäft betreibt und weder Vorstand noch Aufsichtsrat hat. Ansonsten ist der Konzern zerschlagen, der zeitweilig an der Frankfurter Börse einen dreistelligen Milliardenwert hatte.
Falsche Bilanzen und weitere Betrügereien
Die Münchner Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Braun und Komplizen mithilfe der falschen Bilanzen bei Banken und Investoren Milliarden erschwindelten. Braun hingegen sieht sich als Opfer von Betrügern im Unternehmen. Eine Schlüsselfigur des Skandals ist der frühere Vertriebsvorstand Jan Marsalek, der sich im Sommer 2020 absetzte und bis heute untergetaucht ist. Die Geschäftsberichte wurden sowohl von den Vorständen als auch von den Prüfern unterschrieben, die damit für die Richtigkeit der Zahlen bürgten.
Verbucht waren später vermisste Gelder in den beiden Jahren angeblich bei der Bank OCBC in Singapur – Ende 2017 waren es laut Urteil mehr als 700 Millionen Euro und Ende 2018 gut eine Milliarde. Die 1,9 Milliarden Euro waren vor der Wirecard-Insolvenz der Endstand, der in der nicht mehr testierten Bilanz 2019 verbucht werden sollte.
Vorstandschef Braun sitzt seit Juli 2020 in Untersuchungshaft, im Juni steht die nächste Haftprüfung an. Im Strafverfahren prüft das Landgericht München derzeit die Anklage gegen Braun. Sollte die Anklage zugelassen werden, könnte der Strafprozess noch in diesem Jahr beginnen. (mit dpa)