Wirtschaftsmärchen: Die Erklärung von Arbeitslosigkeit (Teil 2)
In dieser dreiteiligen Serie blickt unser Kolumnist und Politiker Fabio De Masi anlässlich der jüngsten Turbulenzen im Bankensektor auf verbreitete Wirtschaftstheorien.

In Teil 1 der Serie „Wirtschaftsmärchen“ erklärte unser Kolumnist Fabio De Masi, wie der ökonomische Mainstream oftmals unrealistische Annahmen über die Welt trifft. In Teil 2 geht es unter anderem darum, wie Arbeitslosigkeit zu einem Problem von zu hohen Löhnen verklärt wird.
Die wichtigste Denkschule des ökonomischen Mainstreams ist die Neoklassik. Ob die Annahmen in den Modellen der Neoklassik stimmen, wird in Debatten zumeist nicht mehr hinterfragt, weil sich viele Studierende der Ökonomie erst einmal durch die (zweifelsfrei nützliche) Mathematik kämpfen müssen und den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Sie bekommen eingeimpft, dass ein ökonomisches Modell nur trägt, wenn es ein stabiles Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage erzeugt. Störungen an diesem Marktgleichgewicht kommen dann immer von außen, etwa durch die Politik. Dabei ist die Physik oder Mathematik längst weiter und hat sich aus der Beobachtung im Labor und in der Natur von solchen naiven Gleichgewichtsmodellen längst verabschiedet.

Ein Beispiel für weltfremde ökonomische Theorien gefällig? Da wäre etwa das Ricardianische Äquivalenztheorem, benannt nach dem klassischen Ökonomen und Verfechter des Freihandels David Ricardo. Es besagt verkürzt, dass Staatsausgaben zur Ankurbelung der Wirtschaft nichts bringen, da die privaten Haushalte im selben Umfang sparen (auf Konsum verzichten). Denn wenn etwa Finanzminister Christian Lindner mehr Infrastruktur bauen lässt, und Bauarbeiter mehr Geld auf dem Konto haben, würden diese in der Zukunft auch höhere Steuern erwarten, weil die Schulden des Bundes reduziert werden sollten, und daher nicht mehr einkaufen. Haben Sie vor Ihrem letzten Einkauf beim Späti in Berlin die Schuldenuhr des Bundes der Steuerzahler gecheckt und ihre zukünftige Steuererhöhung kalkuliert? Nein? Genau dies unterstellt jedoch diese ökonomische Theorie. Der normale Wahnsinn im Lehrbuch.
Es wird von Wissenschaftstheoretikern und realistischen Ökonomen zuweilen bezweifelt, dass die Neoklassik überhaupt als wissenschaftlich bezeichnet werden kann. Ein Grundprinzip der Wissenschaft ist nämlich, dass die Annahmen (Axiome) überprüfbar sein müssen. Aus gutem Grund: Sonst könnte man auch behaupten, dass der Storch die Kinder bringt, wenn man einen Zusammenhang zwischen Anzahl an Störchen und Geburten von Babys beobachtet. Tatsächlich gibt es in vielen Datensätzen einen Zusammenhang zwischen Störchen und Babys. Ob eine Theorie ein Ergebnis zutreffend vorhersagt (mehr Störche führen zu mehr Babys), ist somit nicht ausreichend für Wissenschaftlichkeit. Dies könnte ja ein Zufall sein, aber nichts mit der Annahme der Theorie zu tun haben. Bei der Neoklassik kommt erschwerend hinzu, dass häufig nicht einmal die Ergebnisse stimmen. So hat die Einführung des Mindestlohns in Deutschland die Arbeitslosigkeit nicht erhöht, wie von neoklassischen Ökonomen in Talkshows prophezeit. Manche Studien fanden sogar einen positiven Effekt auf Nachfrage und Beschäftigung.
Modelle ohne (unfreiwillige) Arbeitslosigkeit
So gibt es in neoklassischen Modellen des Arbeitsmarktes auch keine (unfreiwillige) Arbeitslosigkeit. Wenn doch, dann liegt dies daran, dass die Gewerkschaften zu stark sind oder der Staat Mindestlöhne verhängt hat, die den Preis der Arbeit zu teuer machen. Würden die Löhne fallen, so die Logik, würde auch mehr Arbeit nachgefragt. Die Neoklassik unterstellt eine sogenannte sinkende Grenzproduktivität der Beschäftigten. Vereinfacht gesprochen wird angenommen, dass eine Ökonomie immer bereits an der Kapazitätsgrenze produziert. Es gibt daher eine begrenzte Anzahl an Maschinen. Stellt man einen zusätzlichen Arbeiter an eine Maschine (der „Grenzarbeiter“) wird dessen zusätzlicher Beitrag zur Produktion gegenüber den vorherigen Arbeitern geringer, da sich die Arbeiter „gegenseitig auf den Füssen stehen“. Daher müssten die Löhne fallen, um unter sonst gleichen Bedingungen für zusätzliche Beschäftigung zu sorgen. Schon diese Annahme ist zweifelhaft, da unsere Wirtschaft selten vollständig ausgelastet ist und Kostenfunktionen von Unternehmen zeigen, dass die meisten industriellen Güter nicht mit sinkender Grenzproduktivität einhergehen. Mit anderen Worten: Es werden bei einer Ausweitung der Produktion nicht mehr Arbeiter mit einer Maschine, sondern mehr Arbeiter und mehr Maschinen kombiniert.
Die neoklassischen Produktionsfunktionen beruhen unter anderem auf dieser Grenzproduktivität und darauf, dass Firmen bei einem bestimmten Level der Löhne Arbeiter durch Maschinen ersetzen. Der italienische Ökonom Piero Sraffa von der Universität Cambridge konnte in der sogenannten Cambridge-Kontroverse nachweisen, dass dies nicht in allen Fällen gilt, da die Verteilung zwischen Löhnen und Gewinnen selbst die Messung der Produktivität beeinflusst. Der vielleicht einflussreichste neoklassische Ökonom des letzten Jahrhunderts, Paul Samuelson, der sich gegen Ende seines Lebens zunehmend kritisch mit der Globalisierung befasste, war integer genug einzuräumen, dass die neoklassischen Produktionsfunktionen, auf denen die Neoklassik beruht, von Sraffa widerlegt wurden. In den Lehrbüchern findet sich zumeist darüber nichts.
Der Arbeitsmarkt funktioniert in vielen Lehrbüchern wie ein Kartoffelmarkt
Vor allem ignoriert die Neoklassik jedoch, dass Beschäftigte keine Kartoffeln sind: Sinkt der Preis, steigt die Nachfrage nach Kartoffeln. Löhne entsprechen jedoch nicht nur Kosten für die Unternehmen, sondern auch zahlungskräftiger Nachfrage. Denn Beschäftigte gehen im Unterschied zu Kartoffeln einkaufen. Sinkende Löhne reduzieren die Kaufkraft der Beschäftigten und führen dazu, dass Unternehmen weniger verkaufen. Dann investieren sie auch weniger und fragen im Ergebnis weniger Arbeitskräfte nach. Ohne Nachfrage nach seinen Gütern wird ein Unternehmen nicht einmal einen Arbeitssklaven beschäftigen. Wozu auch? Ein Unternehmen beschäftigt Arbeiter, um zu produzieren. Ist Nachfrage vorhanden, werden Arbeiter eingestellt. Die Lohnkosten werden in den Verkaufspreisen der Unternehmen mitberücksichtigt.
Zudem wies bereits der legendäre britische Ökonom John Maynard Keynes darauf hin, dass eine Lohnsenkung zu sinkenden Preisen führen kann. Sinken jedoch die Preise stärker als die Löhne, können die Reallöhne (die Löhne im Verhältnis zum Preisniveau, also die Kaufkraft) sogar trotz Lohnsenkung zulegen. Ein sinkender Reallohn ist aber die entscheidende Stellschraube in neoklassischen Modellen, um die Arbeitsnachfrage zu erhöhen und die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Denn vereinfacht gesprochen setzt der Reallohn die Kosten (Lohn) ins Verhältnis zu den Einnahmen (Preis) für die Unternehmen.
Auf lange Sicht sind wir alle tot!
Um der Kritik an ihren Modellen zu begegnen, werden von Neoklassikern immer wieder neue und realistischere Annahmen eingeführt. Diese würden in der „langen Frist“ jedoch nicht gelten. Dort würden wieder die Gesetze vom perfekten Markt greifen. Mit anderen Worten: Wenn man nur lang genug wartet, gibt es auch wieder Vollbeschäftigung. So akzeptieren die realistischeren Modelle zumindest vorübergehende „Rigiditäten“ (Starrheiten), die eine Beseitigung der Arbeitslosigkeit durch Lohnsenkung verhindern würden. Gemeint ist, dass Gewerkschaften, Tarifverträge und Streiks ein Absinken der Löhne (sogenannte sticky wages oder festklebende Löhne) verhindern. Dazu passt der Satz von Keynes: „Auf lange Sicht sind wir alle tot!“
Ebenso gibt es in etlichen neoklassischen Lehrbüchern weder kreditschöpfende Banken noch Finanzkrisen. Der Zins bringt Ersparnisse und Investitionen auf dem Kapitalmarkt immer in Einklang. Einmal mehr dient der Preis (hier: der Zins) als Signal der Knappheit. Soll mehr investiert werden, um etwa die Arbeitslosigkeit zu beseitigen, muss zunächst mehr gespart (weniger konsumiert) werden, denn die Banken verleihen Ersparnisse. Anders verhält es sich in einer modernen Geldwirtschaft: Banken vergeben Kredite an Unternehmen und Haushalte. Daher scheitern der ökonomische Mainstream, aber auch Deutschlands Börsen-TV regelmäßig daran, Finanzkrisen richtig zu erklären und die entsprechenden wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Im dritten Teil dieses Essays dreht sich daher alles um das Geld.