Wladimir Gall, der "Held von Spandau", hat sein Erinnerungsbuch neu herausgebracht: Ruß am Churchill-Mantel

Nicht mehr militärisch forsch, aber noch immer rüstig setzt der 81-jährige Wladimir Gall seine Schritte über die Brücke zur Zitadelle Spandau. Am Festungstor angekommen, weist der einstige Rotarmist hinauf zu dem hoch gelegenen kleinen Balkon über dem Portal. "Von dort wurde damals die Strickleiter herabgelassen, aber wir haben nicht Romeo und Julia miteinander gespielt." Oben, im "Fürstenzimmer", waren die Offiziere der Wehrmacht und der SS versammelt gewesen, deren Einheiten die verbarrikadierte Zitadelle besetzt hielten; aus den Schießscharten ragten Munitionsläufe. Unten hatten sie gestanden, der Major Grischin, sein Vorgesetzter, und er als dessen Dolmetscher. Zwei russische Parlamentäre, ohne Waffen. Es war um die Mittagsstunde des 1. Mai 1945. Die Sowjetarmee hatte Berlin eingenommen und, in Richtung Brandenburg vorrückend, die Zitadelle Spandau umschlossen. Ein Sturmangriff sollte vermieden werden, er hätte unnötige Opfer gekostet, auch unter den zahlreichen Zivilisten, die sich in die Festung geflüchtet hatten. Grischin und Gall sollten die deutschen Militärs dazu bewegen, kampflos zu kapitulieren. Bis auf wenige kleine dramaturgische Freiheiten habe sich alles so zugetragen, wie sein Freund Konrad Wolf in dem Film "Ich war neunzehn" es in Szene gesetzt hat, sagt Gall. Er selbst hat die dramatischsten Minuten seines Lebens in seinen 1985 in der DDR erschienenen Memoiren "Mein Weg nach Halle" beschrieben. In den letzten Wochen des alten Jahres erfüllte sich Galls Wunsch, dieses Büchlein in einer zweiten, überarbeiteten Auflage herauszubringen. Ein kleiner Verlag in Schkeuditz bei Halle hat es möglich gemacht. Das neue Buch vorzustellen, kam der Autor wieder einmal nach Deutschland. Weidenstock mit weißem StoffAm authentischen Ort in Berlin erinnert er sich, wie er mit Grischin auf die Zitadelle zuging, "in der Hand einen Weidenstock, an den ein Stück weißer Stoff gebunden war". Sie hatten gegen die Festungsmauern gerufen, bis der Kommandant, Oberst Prof. Jung, und sein Vize, Oberstleutnant Koch, auf jener Strickleiter zu ihnen herabstiegen und ihre Mission für aussichtslos erklärten. Da waren sie, auf eigene Faust, mit den beiden hinaufgeklettert ins "Fürstenzimmer", um alle deutschen Offiziere da oben persönlich anzusprechen. Woher sie den Mut dafür nahmen, Gall weiß es nicht mehr. Er fühlt aber noch heute, wie ihm beim Aufstieg eine alte verrußte Laterne, die damals über dem Tor hing, zu schaffen machte. "Das ist verrückt: Statt um mein Leben sorgte ich mich um unseren ,Churchill-Mantel , der durfte nicht dreckig werden." Es war der für diesen Gang ausgeliehene Gardehauptmannsmantel seines Oberinstrukteurs, gearbeitet aus englischem Tuch, eine Lieferung der westlichen Verbündeten. In seinem Frontmantel hatte er nicht zu den Deutschen gehen wollen.Gall steigt mit uns - "diesmal wie es sich gehört" - über die Treppe hinauf. Die freundliche Museumschefin schließt ihm das Fürstenzimmer auf, das heute ein kleiner Festsaal ist. Gall geht zu dem Platz, an dem er damals mit Grischin stand und - vorerst wiederum vergebens - an die in Hufeisenformation gegenüberstehenden Offiziere appellierte. Die Einsichtigen hatten sich nicht sofort gegen die Fanatiker durchsetzen können, die bis zum letzten Blutstropfen kämpfen wollten. Die beiden Russen stellten ein Ultimatum für drei Stunden; danach würde der Sturmangriff kommen. "Nur noch zu zweit auf der leichter gewordenen Strickleiter drückte mich beim Abstieg der Wind gegen die verdammte Laterne, und der Churchill-Mantel bekam doch noch Ruß ab." Aber was sei das schon gewesen gegen die Todesangst, die jetzt, nach dem unklaren Ausgang der Dinge, Grischin und Gall im Nacken gesessen habe. "Nie wieder im Leben ist es mir so schwer gefallen, normalen Schritt zu halten wie beim Weg zurück über die Spandauer Festungsbrücke", sagt Gall. Er spricht von den nachfolgenden langen drei Stunden des Wartens, bis im letzten Moment dann Jung und Koch bei ihnen mit der weißen Fahne erschienen. Wir sind nun auf dem Innenhof der Zitadelle. Gall erinnert sich der Bilder vom späten Nachmittag des 1. Mai 1945: wie die Zivilisten schwadronierend durchs geöffnete Tor nach Hause strömten, und wie die Militärs wortlos den Weg in in die Gefangenschaft antraten. "Auch das mittelalterliche Bauwerk blieb unversehrt." Es hätte nicht unbedingt er sein müssen, der nun hier als der "Held von Spandau" aus- und eingeht, sagt Gall. Alle in seiner Einheit hatten sich für den Einsatz gemeldet, darunter auch der Emigrantensohn Konrad Wolf, sein "Freund Konni", der in der Roten Armee als Aufklärungsoffizier diente. Wie kamen die beiden aneinander? Eigentlich durch einen Zufall, der Galls ganzes Leben bestimmen sollte, und der hat mit einem anderen Menschen zu tun, dem er viel verdankt: mit Lew Kopelew. Der war sein Lehrer an der Moskauer Hochschule für Geschichte, Philosophie und Literatur. Nach Kriegausbruch hatte Kopelew in Moskau den freiwilligen Rotarmisten Gall, seinen Musterschüler, in der Uniform eines Flaksoldaten getroffen und sich entrüstet, warum man einen Mann mit so guten Deutschkenntnissen nicht anders einsetze. So kam Gall in die "Siebente Abteilung" für Aufklärungsarbeit unter den deutschen Soldaten; das brachte ihn im Juli 1944 an der Front in Kowel an die Seite des blutjungen deutschen Kommunisten Konrad Wolf. Sie zogen zusammen bis nach Berlin. Später wurde Gall als Kulturoffizier der Sowjetischen Militäradministration in Halle Wolfs Vorgesetzter. Und beider Wege führten wieder nach Moskau: Gall lehrte nach der Rückkehr in seine Heimat viele Jahre am dortigen Fremdspracheninstitut. Wolf studierte an der Moskauer Filmhochschule; als er 1967 "Ich war neunzehn" zu drehen begann, haben er und sein Szenarist Wolfgang Kohlhaase sich bis in letzte Details auf Gall verlassen. Über "das Geschenk dieser Freundschaft" denkt Gall nicht ohne Zwiespalt nach: "Wie anders wäre mein Leben verlaufen, hätte Kopelew mich nicht in die Siebente Abteilung gebracht. Und wie ganz anders auch, wäre ich in Kopelews Einheit gekommen, was mein Wunsch gewesen war." Vielleicht wäre er im Gulag gelandet - wie Kopelew, nachdem dieser in Ostpreußen Ausschreitungen von Rotarmisten gegen die deutsche Zivilbe-völkerung angeprangert hatte. Unser Gespräch gelangt an einen wunden Punkt in Wladimir Galls Seele. Nur ungern lässt er sich darauf ansprechen, dass sein Vorbild Kopelew in der 85er Erstausgabe seiner Memoiren im DDR-Militärverlag als "Dr. Pinski" erscheint. "Ja, es stimmt", erklärt er etwas betreten, "ich durfte den wahren Namen nicht nennen. Der russische Zensor bestand darauf." Der nach Köln ausgebürgerte Dissident Kopelew galt für die sowjetischen Führer und auch für das DDR-Regime als Unperson. Damit das Buch überhaupt erscheinen konnte, hatte Gall seinen Förderer zu verleugnen. Erst 54 Jahre nach besagter Moskauer Straßenbegegnung ist er Kopelew wieder begegnet. Bei der Veranstaltung "Die Russen gehen" 1995 in der Berliner Akademie der Künste saßen sie miteinander auf dem Podium. Ein herzliches Wiedersehen sei es gewesen, sagt Wladimir Gall. "Wir haben natürlich auch über ,Dr. Pinski geredet, und er war mir nicht böse. Hat nur seinen langen weißen Bart gestrichen und gemeint: ,Jaja, so war das eben. " In dem neu aufgelegten Buch darf Kopelew nun wieder Kopelew heißen. Andere Anrichtungen des Zensors rückgängig zu machen fiel Gall leichter: Wieder eingefügt ist die gestrichene Episode vom Besuch des selbstherrlichen Stalin-Sohns Wassilij in Halle oder die vom neugierigen Gang des Kulturoffiziers Gall durchs Hallenser Hurengässchen, der in einem kommunistischen Heldenbericht nicht hatte vorkommen dürfen. Gall stellt jetzt auch klar, warum er vierzig Jahre lang zwar Visa in die DDR bekam, aber keines nach West-Berlin, um wieder einmal nach Spandau zu schauen: "Ich war, wie es im sowjetischen Volksmund hieß, ,invalid am Punkt 5 . Der fünfte Punkt auf dem Ausreise-Antragsbogen fragte nach der Nationalität. Und da steht bei mir: Jude ." Die Jahre nach Gorbatschows Perestroika hätten ihn "sehr nachdenklich gemacht", sagt Wladimir Gall. "Manche meiner Ansichten musste ich revidieren." An seinem Zitadellen-Bericht aber habe er kein Wort ändern müssen. Überhaupt wollte er, um seiner Glaubwürdigkeit willen nicht davon ablassen, seine Kriegs- und Nachkriegserlebnisse "mit den Worten zu schildern, die ich damals dafür fand". Hat es sich, wenn er zurückschaut, für Wladimir Gall gelohnt? "Als russischer Patriot und einer, der die deutsche Kultur liebt" habe er nicht anders handeln können, antwortet er. "Ich kokettiere nicht, aber ich hatte mein Heine-Gedichtbändchen mit auf dem Feldzug." Beim Abendbrot in der Spandauer "Zitadellenschänke" fällt Wladimir Gall auch manche unheroische Episode ein, vor allem aus seiner Hallenser Zeit. Einmal hat ihm Konrad Wolf den Heinz Rühmann angeschleppt. "Ich höre es noch, wie mich Rühmann mit seiner Fistelstimme devot ersuchte, in Buna mit ein paar Schauspielern den ,Mustergatten spielen zu dürfen. Nach der Premiere zückte er für uns ein Wodkafläschchen. Das hat uns gerührt, weil wir das nun wirklich nicht nötig hatten; der Konni und ich hatten davon immer genug da." Nicht nur beim Schnaps sei man mit dem Genehmigen großzügig gewesen. "Die meisten Ufa-Schinken habe ich durchgehen lassen. Denn nur mit ,Iwan dem Schrecklichen und dem Hohelied auf die Komsomolzin Soja Kosmodemjanskaja konnten wir euch nach dem Krieg doch nicht aufmuntern." Aber einen Film habe er doch verboten, "und ausgerechnet den über unseren Nationalkomponisten Tschaikowski". Gall lacht sich eins über seine damalige Begründung: "In ,Es war eine rauschende Ballnacht verstehen nämlich weder das russische Volk noch der russische Hochadel unseren Künstler, sondern ausgerechnet nur zwei Deutsche, die Frau von Meck und ihr Kammerdiener. Das ging mir als stolzem Russen damals zu weit."Was wurde für ihn aus dem Sieg?Was wurde für ihn aus dem Großen Vaterländischen Sieg? Wladimir Gall: "Es war richtig und historisch überfällig, dass wir aus diesem Land gegangen sind. Aber wie es geschah, das hat mir doch weh getan. Ein Kommandeur, der Flugzeuge voller Mercedesse zu sich nach Hause schickt, hol ihn der Teufel, und Soldaten, die daheim erst einmal unter freiem Himmel schlafen müssen. Das war ein beschämender Rückzug." Er gönne es den Deutschen, dass es ihnen wieder recht gut geht. "Aber bessere soziale Verhältnisse auch für uns habe ich mir damals nach dem Sieg schon ausgemalt." Gall muss mit rund 1 000 Rubel Rente auskommen, das sind etwa 80 Mark. Für die ärztliche Behandlung nach einem Schlaganfall musste er sich verschulden - was solle er mehr sagen? "Aber ich bin nicht unglücklich, habe meinen Humor behalten, meine Kinder und viele Freunde in Deutschland unterstützen mich." Unter diesen Freunden sind auch Gerhard Niemczyk und Gisela Nürnbach aus Berlin; am 1. Mai 1945 war der eine als Volkssturm-Mann, die andere als kleines Flüchtlingskind in der Zitadelle Spandau. Niemczyk saß vor kurzem bei Galls Lesung im Berliner Kiez-Club Spittelkolonnaden neben ihm am Tisch. Zensor hin, Zensor her, sagte ein jüngerer Zuhörer - "wichtig ist, dass dieser Mann da neben Ihnen lebt". Was ist aus zweiten Parlamentär, dem Major Grischin, geworden? Gall hat ihn nie wiedergesehen. Er ließ ihn in den neunziger Jahren öffentlich suchen. "Aber in Russland interessieren diese Geschichten nicht mehr so sehr. Höchstens mal am Jahrestag des Sieges. Da holten sie mich mit dem Auto ins Fernsehen, dort erfuhr ich: Grischin ist vor drei Jahren gestorben."Wladimir Gall: Moskau - Spandau - Halle. Etappen eines Lebensweges. GNN-Verlag Schkeuditz 2000. 218 S., 25 Mark"Wenn es mir gelingt, bei den Deutschen Verständnis für meine Haltung in jenen Jahren zu finden, dann war mein Leben nicht umsonst. " Wladimir Gall.BERLINER ZEITUNG/KARL MITTENZWEI Wladimir Gall im Fürstenzimmer der Zitadelle Spandau: "Hier standen wir, ohne Waffen, mit dem Rücken zur Wand. "