„Aliens & Anorexie“ von Chris Kraus: Nieder mit dem Storytelling

Ende der Neunziger fliegt Chris Kraus, Figur des Romans „Aliens & Anorexie“, nach Berlin, um einen Film auf der Berlinale zu zeigen. Auftakt eines Verwirrspiels

Chris Kraus
Chris KrausChristian Werner

Berlin-Geschichten, Mythen, Storys – für die Autorin und Filmemacherin Chris Kraus sind sie die ewigen Komplizen des Kapitalismus. Das Narrativ, eine stringente Erzählung mit Handlung und Figuren, sei das große Narkotikum unserer hyperindividualistischen Zeit, warf sie vor einigen Jahren einem verdatterten Fernsehmoderator entgegen.

Die ganze Welt soll heute durch den Filter persönlicher Storys erfahren werden. Egal ob Kriege, Aufstände, Revolutionen: Alles werde in eine Boy-meets-girl-Geschichte gepresst. Mit diesem Wissen über „Kraus’“ Interesse an Strukturkritik sollte man ihr Buch „Aliens & Anorexie“ lesen. Wer „I love Dick“ kennt, erst 20 Jahre nach seinem Erscheinen 2017 ins Deutsche übertragen und inzwischen Kult, weiß eh, worauf sie sich einlässt. Auch in „Aliens & Anorexie“ (erschienen auf Englisch, Übersetzung wieder vom fantastischen Kevin Vennemann), treten eine Erzählerin namens „Chris Kraus“ und ihr Ehemann Sylvère Lotringer auf.

Der rote Faden ist willkürlich dünn

„Kraus“ fliegt Mitte der 90er-Jahre zur Berlinale, um ihren Featurefilm „Gravity & Grace“ vorzustellen. Sie ist jedoch nur zum European Film Market eingeladen, einem Sammelbecken für alle, deren Filme bei den Festspielen abgelehnt wurden. Die furztrockene Analyse der desolaten Lage der Künstlerin ist so lustig wie traurig: „Ich produzierte dichte und schwierige, kaum wirklich einnehmende Experimentalfilme, zeigte sie in Clubs und an Veranstaltungsorten, wo die Projektoren kaputt waren, die Zuschauer sich während der Vorführung unterhielten und Zwischenrufe machten. Ich hatte eigentlich schon fast aufgegeben, verbrachte Monate in unserem Bauernhaus damit, in der Schule vor Ort auszuhelfen, Senfgurken einzulegen und über Selbstmord nachzudenken.“

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Buchcover
BuchcoverMatthes & Seitz

Der rote Faden – „Kraus“ erinnert sich an die Dreharbeiten in Neuseeland, an den SM-Telefonsexpartner Gavin, einen erfolgreichen Regisseur, dem sie devote Emails schreibt – ist wirklich dünn. Den größeren Teil des Buches nehmen Essays über unterschätzte Intellektuelle und Künstler ein; die Philosophin Simone Weil, der Künstler Paul Thek und seine Fleischinstallationen, die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof und so weiter. Essays gehen unmittelbar über in Tagebucheinträge von Weil oder Thek. Dann kommt wieder ein Häppchen Handlung. Lesen, sagte Kraus im oben zitierten Interview, sei Teil ihres Lebens und Atmens. Sie könne nicht anders, als Texte, die sie beschäftigen, in ihr eigenes Schreiben einfließen zu lassen. Wahres Vergnügen an „Aliens & Anorexie“ wird nur haben, wer sich auf diese Form des lesenden Schreibens und schreibenden Lesens einlässt.

Wertung: 3 von 5 Punkten

Chris Kraus: Aliens & Anorexie. A. d. Engl. v. Kevin Vennemann, Matthes & Seitz, Berlin 2021. 255 S., 22 Euro.

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.