„Als mein Bruder starb, war ich 37 – danach bekam ich wahnsinnige Lust auf Sex“
Trauernde berichten davon, keinen Zugriff mehr auf die eigenen Gefühle zu haben. Sex kann dabei helfen, immerhin etwas zu spüren. Unsere Autorin hat es erlebt.

Berlin-Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Beerdigung. Sagen wir, der Verstorbene ist ein entfernter Verwandter von Ihnen und bereits vor ein paar Wochen eingeäschert worden. Seine Frau, Verzeihung, Witwe, lädt nach der Urnen-Beisetzung noch zum Leichenschmaus in ein Restaurant. Es gibt Reden, Essen und auch dem Wein wird gut zugesprochen. Nach einer Weile suchen Sie die Toilette auf. Aus einer Kabine hören Sie unverwechselbare Geräusche: Da wird kopuliert. Wow. Ich gebe zu, am frühen Abend in einem eher gediegenen Restaurant ist das ohnehin eine außergewöhnliche Begebenheit. Aber auch noch auf einer Trauerfeier? Ist das nicht komplett pietätlos? Sollten Sie später auch noch Zeugin davon werden, wie die Witwe mit geröteten Wangen von der Toilette zurückkehrt, sind Sie dann nicht restlos empört?
Gewiss, die beschriebene Szene liegt eher im Bereich des Unwahrscheinlichen, nicht aber des Unmöglichen, durchaus nicht!
Aber bitte folgen Sie mir, denn es geht darum, die widersprüchlich scheinenden Begriffe Trauer und Sexualität einander anzunähern. Warum denn, um alles in der Welt?, fragen Sie mich. Also zunächst, weil ich mich mit Tod und Trauer gut auskenne. Mein Vater nahm sich das Leben, als ich 19 Jahre alt war, mein Bruder 18 Jahre später. Ich habe einmal als späte Teenagerin getrauert und einmal als Enddreißigerin. Überraschenderweise waren das sehr unterschiedliche Erfahrungen. Sie glichen sich eigentlich nur in zwei Dingen: im anfänglichen Schockzustand, dieser merkwürdig gedehnten Zeit, in der Gerüche und Geräusche an Intensität zugenommen haben, analytisches Denken aber fast unmöglich war. Und, darauffolgend, in meiner vehementen Weigerung, mich fallen zu lassen. Ich hatte große Angst davor, die Bodenhaftung zu verlieren, verrückt zu werden, aufzugeben. Darum hielt ich meine Strukturen aufrecht und teilte dem Schmerz feststehende Zeiten zu, die ich strikt einhielt. Trauer ist ein wilder Zustand, es lässt sich kaum etwas Allgemeingültiges über sie sagen, weil sie so individuell und situationsabhängig ist. Falls Sie mehr darüber wissen wollen, hören Sie mal in den „endlich.“-Podcast hinein. Darin besprechen zwei Frauen alle Themen zwischen Tod und Trauer. Eine davon bin ich.
Für alle zugängliches Wissen über Trauer
Der vielleicht größte Unterschied zwischen meinen beiden Trauererfahrungen aber war der Sex. Und darüber möchte ich gern mit Ihnen sprechen. Warum mit Ihnen? Gute Frage. Ich wüsste nicht, mit wem sonst. Mit meiner Therapeutin? Schwierig. Man kann Glück haben und auf eine Person treffen, die sich auskennt im wüsten Landstrich der Trauer. Aber in der therapeutischen Ausbildung spielt sie nur eine sehr untergeordnete Rolle. Und offen über Sexualität zu sprechen, selbst in einer Therapie oder beim Arzt, ist schambesetzt, machen wir uns nichts vor. Da braucht es schon eine besondere Beziehung, um sich zu öffnen. Ich konnte das nicht. Vielleicht mit anderen Angehörigen darüber reden? Mit meiner Mutter, meinen Sie? Nein. Einfach nur nein. Oder mit anderen Betroffenen?
Wissen Sie, ich mag Menschen und spreche eigentlich auch gern mit Fremden. Ein, zwei Mal habe ich eine Selbsthilfegruppe besucht, aber das ist wie mit Blümchenkleidern oder Jägermeister: Das ist einfach nichts für mich. Ich fühle mich unwohl. Mir wird schlecht. Ich halte das gar nicht aus. Aber mit Freunden? Prinzipiell ja. Ich schätze mich glücklich, Freunde zu haben, mit denen ich tatsächlich über alles sprechen kann. Aber der Punkt ist, Sie ahnen es möglicherweise schon, dann bleibt dieses Gespräch weiterhin privat. Und ich möchte, dass es ein öffentliches wird, dass es einen gesellschaftlichen Diskurs gibt, für alle zugängliches Wissen über Trauer – und dazu zählt eben auch die Sexualität. Darum wende ich mich also an Sie. Sie haben immerhin die Anfangsszene ausgehalten, ich denke, ich kann auf Ihre Offenheit zählen.
Meine Libido hatte Pause
In der Trauer um meinen Vater war Sexualität für mich kein Thema. Obwohl, das stimmt nicht ganz: Sex spielte insofern eine Rolle, als ich ihn komplett ablehnte. Kurz nach dem Tod meines Vaters (wirklich, es waren nur ein paar Tage) hat sich mein damaliger Freund von mir getrennt. Er war meine erste Liebe. (Ich habe das damals genauso gesagt und bleibe jetzt trotz innerlichen Knirschens dabei.) Es war schlimm. Alles war schlimm.
Es gab plötzlich kein Jetzt mehr. Alles, was ich kannte, hatte sich geändert, und eigentlich sollte mein Leben gerade erst losgehen. Ich hatte die Schule abgeschlossen, war bei meinen Eltern ausgezogen und im Begriff, eine Ausbildung zu beginnen. Jetzt war mein Vater tot und mein Freund weg. Nach ein paar Wochen kompletter Verzweiflung warf ich mich mit allem, was ich hatte, in meine eigene Zukunft: Ich schmiedete Pläne, verwarf einige und verfolgte andere, ich reiste, ich zog um, ich war unterwegs, habe nach vorn gelebt, um zu überleben. Dafür brauchte ich alle Energie, die ich aufbringen konnte. Meine Libido hatte Pause.
Durch Ausschüttung von Botenstoffen steigert sich das Wohlbefinden
Als mein Bruder starb, war ich 37. Ich hatte zwei Kinder, lebte mit einem Mann und arbeitete Vollzeit. Der Schlag, den mir sein Suizid versetzt hat, war hart. Dieses Mal hatte ich ein dickes Jetzt. Eins mit sehr wenig Platz drum herum. Keine Möglichkeit, sich in die Zukunft zu stürzen wie beim letzten Mal. Ich wusste nicht, was ich tun könnte, um da durchzukommen. Also hielt ich an. Lag im Bett und schaute an die Wand. Saß am Fenster und schaute auf den Hinterhof. Nach ein paar Wochen bekam ich plötzlich wahnsinnige Lust auf Sex. Und denken Sie nicht, ich hätte mich darüber gefreut, so war es nicht. Ich habe mich geschämt. Und geärgert! Was sollte das denn jetzt plötzlich?

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Ich schaute Pornos, ich masturbierte, ich hatte andauernd lüsterne Gedanken – und das, obwohl ich litt und trauerte, obwohl mein Bruder sich eben erst das Leben genommen hatte. Ich meldete mich sogar bei einigen Dating-Apps an und traf echte Menschen, um Sex mit ihnen zu haben. Dabei machte ich viele schöne Erfahrungen und auch ein paar verstörende. Dass ich beim Orgasmus weinen musste, war eine davon. Weil das Sich-fallen-Lassen, das Abgeben der Kontrolle auch bedeuten kann, dem eigenen Schmerz zu begegnen. Manchmal nahm sich das dunkle Gefühl in den Momenten der Hingabe plötzlich Raum, und ich habe erfahren, wie befreiend es sein kann, in einem solchen Moment sehr fest gehalten zu werden.
Aber vor allem habe ich gelernt, dass ich mit Sex dem Tod singend in den Arsch treten kann („Sex is kicking death in the ass while singing“ – Zinzi Clemmons). Trauer ist Vergangenheitsschmerz und Zukunftsverlust. Guter Sex dagegen ist purer Gegenwartsgenuss. Vielleicht ist sexuelle Lust also eine Art Selbsthilfe des menschlichen Geistes, um zu überleben? Die rein körperliche Wirkung von befriedigendem Sex legt das nahe: Durch Ausschüttung von Botenstoffen steigert sich das Wohlbefinden, werden Herzschlag und Durchblutung angekurbelt und Schmerzen gelindert. Trauernde berichten oft davon, sich taub zu fühlen, keinen Zugriff mehr auf die eigenen Gefühle zu haben, sich und ihr Leben wie aus einer Distanz zu betrachten. Sex kann dabei helfen, immerhin etwas zu spüren.
Die Trauer ist trotzdem immer da
Sicher denken Sie jetzt, was war denn mit dem Mann und den Kindern? Ja, da haben Sie recht. Und Sie können sich vielleicht vorstellen, dass das alles nicht ganz einfach war. Es hilft, sich bewusst zu machen, dass sexuelles Verlangen Teil des Trauerprozesses sein kann und man also nicht plötzlich den Verstand verloren hat. Die Konflikte bleiben aber deswegen natürlich nicht aus, zumal sich meine Vorstellungen immer weiter weg von dem Mann bewegten, mit dem ich zusammen war. Bevor es aber zu intim wird, möchte ich Ihnen nur kurz versichern, dass wir uns heute sehr gut verstehen, auch wenn wir nicht mehr zusammen sind. Für Menschen, die um ihre Partner trauern, ist es besonders konfliktbeladen, von sexuellen Gelüsten heimgesucht zu werden, vor allem wenn sie alt sind. So viele Tabus auf einmal! Sie sehen, da ist im öffentlichen Diskurs noch viel Platz für Gespräche.
Glauben Sie mir, es gibt alles: Leute, die am Tag der Beerdigung Sex haben (wollen), solche, die sich langsam wieder herantasten, solche, die nie wieder Sex haben werden – vielleicht weil sie gar keine sexuellen Bedürfnisse mehr haben, vielleicht aus anderen Gründen. Ob Sexualität in der Trauer eine Rolle spielt, hängt von den Lebensumständen der betroffenen Person ab. Sie kann jedoch eine Strategie zur Bewältigung von Trauer sein. Denn sexuelle Lust ist in all ihren Formen lebensbejahend und nach ihrer Befriedigung kann man auch viel besser schlafen. Die Trauer ist trotzdem immer da.
Manchmal kommt sie beim Knutschen. Dann ist es schön, wenn das Gegenüber das mit einem aushält. Und nach einer großen Umarmung vielleicht fragt, ob man weiterknutschen will. Manchmal fällt man nach einem Orgasmus in ein tiefes Trauerloch. Oder muss beim Masturbieren weinen. Zu wissen, dass man nicht allein ist mit diesen verwirrenden Gefühlen und Gedanken, schon das kann tröstlich sein. Vielleicht haben Sie ja auch die eine oder andere Erfahrung gemacht, die Trauer und Sexualität gemeinsam betrifft? Oder Sie kennen jemanden, für den das ein Thema sein könnte? Reden wir darüber!
Susann Brückner und Caroline Kraft werden im März 2022 ihr Buch „Endlich. Über Trauer reden“ bei Goldmann veröffentlichen.
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