Amia Srinivasan: Wie ein Buch über Sex die Schwächen des Feminismus freilegt

Der Essayband „Das Recht auf Sex“ untersucht Sex, Begehren und Pornografie im Licht jüngerer Diskussionen über Rassismus und Ungleichheit. Eine Empfehlung!

Die Autorin des Buchs „Das Recht auf Sex“ Amia Srinivasan
Die Autorin des Buchs „Das Recht auf Sex“ Amia SrinivasanKlett-Cotta

Kaum ein Sachbuch hat in meinem Freundeskreis in den letzten Monaten so viel gedanklichen Staub aufgewirbelt wie wie Amia Srinivasans „Das Recht auf Sex“. Als ich im Herbst, kurz nach der englischen Erstveröffentlichung, durch London spazierte, war Srinivasans Titel in den Schaufenstern so gut wie jedes Buchladens prominent platziert. Man konnte es quasi nicht nicht kaufen.

Mich überraschte das auch deshalb, weil es sich dabei nicht etwa – wie der Titel suggerieren könnte – um ein Buch über Sexpraktiken à la „Feuchtgebiete“ handelt. Sondern um eine philosophisch inspirierte Abhandlung über die politischen Implikationen von Sex. Über die Ursprünge und Wandelbarkeit unseres Begehrens und über seine technologische Instrumentalisierbarkeit. Über die ihm innewohnenden Widersprüche und Ambivalenzen. Über die Verflechtung von Sex und Begehren mit Identitätskategorien wie race, sexueller Orientierung, Geschlecht.

Das Buch tritt an, die Schwachstellen des Diskurses über Sex und Begehren in der Post-#MeToo-Ära freizulegen. Charmanterweise greift die Autorin in ihrer Kritik zeitgenössischer feministischer Ansätze auf Ideen zurück, die manchen aus heutiger Sicht „alt“ erscheinen könnten: Ideen von Feministinnen wie Simone de Beauvoir, Angela Davis, Alexandra Kollontai oder bell hooks.

Zu den Schwachstellen gehört in Srinivasans Augen die einseitige Verengung feministischer Diskurse auf „consent“ – Fragen über das Einverständnis zu sexuellen Handlungen. Ein Feminismus, der sich lediglich darauf konzentriert, droht in den Augen der Autorin nicht nur die radikalen Potenziale des queeren Feminismus der 80er-Jahre zu verraten, sondern auch Einflussmöglichkeiten einzubüßen, was Fragen der Machtverteilung in kapitalistischen Gesellschaften angeht.

Amia Srinivasan lässt „alte“ Ideen neu erscheinen

Viele Feministinnen der Jetztzeit, kritisiert Srinivasan, überhöhten die Normen der Sexualität gemäß den Normen des freien Markts: „Ausschlaggebend sind nicht die Bedingungen für das Kräftespiel von Angebot und Nachfrage“, schreibt sie, „sondern allein, dass Kaufende und Verkaufende der Transaktion zugestimmt haben.“

Eine weitere Schwachstelle feministischer Strömungen der Post-#MeToo-Ära zeige sich etwa darin, dass eine Denklogik wie „Believe Women“ zu einer Art Nullsummenlogik verkomme. Der Faktor des biologischen Geschlechts würde in der Bewertung von Missbrauchs- oder Vergewaltigungsvorwürfen überhöht – andere Faktoren dagegen außer Acht gelassen. „Wenn weitere Faktoren wie race, Klasse, Religion, Aufenthaltsstatus, sexuelle Orientierung, hinzukommen“, so Srinivasan, „beginnt zu verschwimmen, wem wir zum Ausgleich von Machtasymmetrien ein Zeichen der Solidarität entgegenbringen sollten“.

Die Autorin führt dafür eine Reihe regelrecht schockierender Beispiele an, in denen sich etwa der koloniale Mythos vom nicht-weißen Mann als bestialischem Vergewaltiger spiegelt. Oder die Tatsache, dass sexualisierte Gewalt gegenüber Schwarzen Frauen – inner- wie außerhalb kolonialer Kontexte und teils bis heute – oft nicht als solche behandelt wurde. Letztere galten und gelten, zeigt Srinivasan, in den Augen mancher schlicht als „unschändbar“.

Es gibt kein „Recht auf Sex“. Aber Diskussionen über Zugang

Der titelgebende und wohl auch provokanteste Essay des Bandes wagt einen Einblick in die Gedankenwelt eines „Incels“ – was für „involuntary celibate“ steht, „unfreiwillig zölibatär“. Als Incels bezeichnen sich meist junge, heterosexuelle Männer, die online und teils auch im Analogen ihrem Hass auf Frauen freien Lauf lassen. Amia Srinivasan begann 2014 – nach dem Amoklauf des Incels Eliot Rodger – mit der Arbeit an dem Essay. Roger hatte in Santa Barbara sechs Menschen getötet. Er begründete die Tat in einem über 100.000 Wörter langen „Manifest“, wo er behauptete, Frauen hätten ihm Sex vorenthalten.

Srinivasan entwickelt, ausgehend von dem Fall, die These, dass Begehrtwerden keineswegs nur eine rein individuelle oder private Angelegenheit sei, sondern politisch und gesellschaftlich verankert. People of Colour, Menschen aus der Arbeiterschicht oder mit „Behinderung“ zählen – wie offene sexuelle Diskriminierung auf einer Dating-Plattform wie „Grindr“ offenlegt – zu den weniger Begehrten. Sollten wir die Benachteiligung jener Menschen gegenüber schlanken, blonden Männern und Frauen, die im Ranking des Begehrtwerdens faktisch weiter oben stehen, nicht zumindest adressieren? Incels – das ist die eigentliche Provokation in Srinivasans Essay – scheinen ihrer menschenverachtenden Ideologie zum Trotz einen Teil der ungleichen Ökonomie des Begehrens durchschaut zu haben. Anstatt jedoch die bestehenden Hierarchien des Begehrens als solche zu kritisieren, zentrieren sie lediglich ihren Platz in ihr und begründen dadurch ihren Hass gegen Frauen.

In dem vielleicht faszinierendsten Teil des Bandes verhandelt Srinivasan die zahlreichen Reaktionen und Gedanken, die sie nach Veröffentlichung des Essays 2018 erhalten und entwickelt hat. Einige jener Fragen könnten ganze Bücher und Podien füllen. Etwa die, ob wir die – für politische Kämpfe nicht ganz unwichtige – Behauptung, sexuelle Präferenzen seien angeboren, mit konstruktivistischen Ansätzen der Forschung sowie mit konkreten Erfahrungen schwuler, bisexueller und auch Transmenschen vermitteln können? Oder ob wir so etwas wie sexuelle Präferenz überhaupt als etwas Festgeschriebenes verstehen sollten – oder nicht vielmehr als wandelbaren Effekt unserer Erinnerung?

Titel des Buchs „Das Recht auf Sex“
Titel des Buchs „Das Recht auf Sex“Klett-Cotta

Pornos setzen für viele die Standards für „guten Sex“

In „Gespräche mit Studierenden über Pornografie“ berichtet Srinivasan ferner aus ihrer eigenen Lehrerfahrung. In Seminaren konfrontierte sie Studierende mit Ideen des antipornografischen Feminismus der „ersten Welle“ – zum Beispiel Ideen der Autorin Catharine MacKinnon. Für MacKinnon, zeigt Srinivasan, ist Pornografie eine Ideologie, die die Unterdrückung der Frau erotisierte und somit fortschreibe. Srinivasan legt dabei den Finger in die Wunde problematischer Ideen aus dem Kreis der Feministinnen jener Zeit, die – wie Alice Schwarzer das im deutschen Kontext auch heute noch tut – Transfrauen ausgrenzten oder ihnen schlicht ihre Identität als Frau absprachen.

Dennoch: Die „alte“ Kritik der Pornografie stößt – zur Srinivasans Überraschung – bei den Studierenden auf positive Resonanz. Für eine jüngere Generation, die mit dem Internet aufwuchs, für die Mainstream-Pornos allgegenwärtig sind und in den Augen vieler junger Männer wohl auch Standards setzend dafür, wie „guter Sex“ auszusehen hat, scheint die anti-pornografische Kritik der 70er-Jahre ein willkommener Gegenpol zu dominierenden feministischen Ansätzen der Jetztzeit zu sein, für die Pornografie nicht im Zentrum der Kritik steht.

Dass Srinivasan die Berichte Studierender über deren von Pornos geprägtes – und somit oft als vorstellungslos empfundenes – Sexleben hier wiedergibt, ist eine der wenigen Stellen in „Das Recht auf Sex“, an denen man sich fragt, ob die Methodik der Autorin mit dem von ihr entworfenen Analyse-Apparat intersektionaler Machtkritik wirklich immer mithalten kann. Geschenkt, das Private ist politisch. Aber ist es nicht auch ein bisschen fragwürdig, wenn eine Professorin ihre Studierenden über ihr Sexleben ausfragt? Diese Frage drängt sich auch deshalb auf, weil Srinivasan ihre eigene Machtposition in einem anderen Kapitel, wo es um „erotische Energien“ zwischen Lernenden und Lehrenden geht, selbst adressiert – und vor deren Missbrauch warnt.

Wie dem auch sei: „Das Recht auf Sex“ ist ein kleiner Kometeneinschlag feministischer Publizistik. Als solcher sollte das Buch – auch im deutschsprachigen Kontext – ernst genommen und gelesen werden. Hoffentlich auch von den Alice Schwarzers dieses Landes.

Amia Srinivasan: „Das Recht auf Sex: Feminismus im 21. Jahrhundert“, Klett-Cotta Verlag, 320 Seiten, 24 Euro.

4 von 5 Punkten

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.