Belarussin im Exil: „Die Verletzlichkeit ist eine Grundlage für jede Demokratie“
Vor einem Jahr protestierte die Philosophin Olga Shparaga in Belarus. Sie wurde verhaftet, heute lebt sie in Berlin. Über den Versuch, optimistisch zu bleiben.

Berlin-„Von allem Leid, das diesen Bau erfüllt, ist unter Mauerwerk und Eisengittern ein Hauch lebendig, ein geheimes Zittern, das andrer Seelen tiefe Not enthüllt“, tönt es aus der Zelle. Es ist ein schmaler Bau mit vier Betonwänden, im Geschichtspark des ehemaligen Zellengefängnisses Moabit in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs. Die Verse stammen aus den Moabiter Sonetten des Dichters und Widerstandskämpfers Albrecht Haushofer, die er 1944/45 während seiner Haft verfasste. Sie lassen innehalten, kurz blendet man den Trubel des nahe liegenden Hauptbahnhofs aus. In der Zelle steht Olga Shparaga. Sie trägt eine Jeans, ein graues T-Shirt und einen grünen Parka, an dem ein kleiner Anstecker mit einer Friedenstaube und der Aufschrift „Resist“ zu erkennen ist. Hier, im Zellengefängnis Moabit, waren während des Zweiten Weltkrieges Widerstandskämpfer und Oppositionelle eingesperrt.
Tausende Belarussen haben seit letztem Jahr das Land verlassen
„Ich bin zufällig mal beim Spazieren hier vorbeigekommen“, erzählt Shparaga später bei einem Rundgang durch den Geschichtspark. Ihr Deutsch ist perfekt, nur ein sanfter Akzent verrät, dass sie nicht in ihrer Muttersprache spricht. „Ich mag diesen Ort, denn er zeigt, dass es in der Geschichte immer Menschen gegeben hat, die aus politischen Gründen gelitten haben.“ Olga Shparaga ist Philosophin und Aktivistin aus Belarus. Seit Beginn der Proteste im August 2020 war sie dort bei allen friedlichen Demonstrationen dabei. Bis zum 9. Oktober: An diesem Tag wurde sie verhaftet und mit anderen Demonstrantinnen ins Gefängnis gebracht. Die Zeit hinter Gittern machte sich Shparaga zunutze, tauschte sich mit anderen Frauen aus und gab Kurse über Foucault, Menschenwürde und Empathie. 15 Tage war sie inhaftiert, danach floh sie nach Vilnius. Jetzt lebt sie in Berlin im Exil. Auf die Frage, wie sie den Gefängnisaufenthalt in Erinnerung hat, antwortet sie: „Es war kein traumatisches Erlebnis, sonst wären wir jetzt nicht hier, aber ich habe auch Freunde, die hat es sehr viel mehr mitgenommen.“
Seit den Protesten im vergangenen Sommer haben Tausende Menschen aus Belarus das Land verlassen. Viele sind nach Litauen und Polen geflohen, einige auch nach Deutschland. Vor allem jene, die bereits davor Verbindungen hierher hatten, so wie die Philosophin. Olga Shparaga verschlug es nach Berlin, weil sie beim Suhrkamp Verlag für ihr Buch „Die Revolution hat ein weibliches Gesicht“ unter Vertrag genommen wurde. Es ist eine Chronik der Demonstrationen in Belarus, in der sie erklärt, warum es vor allem Frauen waren, die die Proteste anführten. Shparaga hat auch früher schon in Deutschland gelebt, sie studierte in Bochum bei dem Philosophen Bernhard Waldenfels und war dort später auch als Professorin tätig. Jetzt pendelt sie zwischen Berlin und Vilnius, wo sich viele ihrer Kolleginnen und Kollegen aufhalten.
„Die Menschen haben angefangen, einander zu vertrauen.“
Das Land ist ihr also nicht fremd, trotzdem würde die 47-Jährige lieber nach Belarus zurückkehren, um dort für ein freies demokratisches Belarus zu kämpfen. Den deutschen Wahlkampf hat sie intensiv verfolgt und dabei stets überlegt, welche sozialen und ökologischen Fragen wohl in Belarus diskutiert werden würden, wenn demokratische Prozesse dort aktuell möglich wären. Generell blickt die Philosophin aber mit einer gewissen Skepsis auf die Politik, sie sieht den wahren Motor gesellschaftlichen Wandels in der Zivilgesellschaft. Das ist auch das, was sie an den Protesten so fasziniert: „Die Menschen haben angefangen, einander zu vertrauen.“
Später trifft sie sich mit einem Freund, der zu sozialen Medien im Zusammenhang mit Protesten forscht, übermorgen ist sie bei einer Lesung und Diskussion in Braunschweig, nebenbei plant sie das nächste Semester für ihre Studenten in Belarus. Shparaga nimmt fast jede Einladung an, sie lebt von diesen zwischenmenschlichen Begegnungen. Das merkt man auch im Gespräch mit ihr. Stellt man ihr eine Frage, dann nimmt sie sich Zeit. Sie antwortet stets mit analytischer Genauigkeit, doch ihre Beobachtungen sind gleichzeitig von einer Leichtigkeit gekennzeichnet, die mit ihrem Blick auf die Welt verbunden ist: „Ich versuche immer, das Alltägliche in meine philosophische Praxis mit einzubinden.“
Zwischen Begeisterung und Trauer
Eine dieser Beobachtungen ist, dass sie im vergangenen Jahr einen Wandel in der belarussischen Gesellschaft beobachtet hat. Unter Lukaschenko war die Stimmung immer von einem gewissen Misstrauen geprägt. Die Menschen vertrauten weder einander noch dem Staat. Deshalb flüchteten sie sich ins Private und gerieten in eine Art politische Gleichgültigkeit. Mit den Protesten habe sich etwas geändert, was nicht mehr aufzuhalten sei: „Die Menschen haben gemerkt, was es heißt, frei und solidarisch sein zu können.“ Die Gesellschaft befinde sich in einem Stadium zwischen Begeisterung und Trauer, was man auch an Shparagas Tonfall merken kann. Sie erzählt einerseits bedrückt von Geschichten von Freunden, die sich nicht mehr trauen, in ihren NGOs zu arbeiten, da sie damit eine Verhaftung riskieren. Andererseits erzählt sie fasziniert davon, wie ihre Mutter ihr am Telefon berichtet, dass die Menschen sich auf dem Marktplatz austauschen, wer verhaftet wurde. Vor den Protesten wäre das nie passiert. „Die Sorge hat sich ins Alltägliche übertragen.“
Die Partizipation, das neue Gemeinschaftsgefühl beschäftigt Shparaga auch aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Deshalb forscht sie zurzeit vermehrt zu dem Konzept der „caring masculinity“, das sich von den traditionellen patriarchalen Männerrollen absetzt. So beobachtete sie im vergangenen Jahr in Belarus, wie zunehmend auch Männer ihre Verletzlichkeit und Schwäche zeigten. Für die Philosophin ist dies ein progressiver Schritt. Sie hofft, dass aus dieser gemeinsamen Verletzlichkeit heraus eine neue gesellschaftliche Kraft entstehen kann. „Die Verletzlichkeit ist eine Grundlage für jede Demokratie“, sagt sie. Die gemeinsame Sorge, die Solidarisierung untereinander bekommt die 47-Jährige auch in Berlin zu spüren. So tauscht sie sich dort mit anderen Belarussinnen und Belarussen aus. Gemeinsam überlegen sie, welche neue Form der Protest annehmen kann. So setzt sich die „revolution in progress“, wie Shparaga den Zustand ihres Landes beschreibt, in Berlin fort. Im Vergleich zu Vilnius ist die Gemeinschaft zwar deutlich kleiner, doch Begegnungen wie diese lassen Shparaga noch immer auf ein neues Belarus hoffen.
Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.