Berlins mysteriösester Mordfall: Wo ist der Kopf von Ilse-Maren Graalfs?
Die Staatsanwaltschaft tappt im Dunklen: Vor 25 Jahren wurde Ilse-Maren Graalfs brutal ermordet. Vom Täter und vom Kopf der Leiche fehlt bis heute jede Spur.

Berlin-Der Mörder ist wahrscheinlich schüchtern und verklemmt. Er hat wahrscheinlich ein gestörtes Verhältnis zu selbstbewussten und erfolgreichen Frauen. Wenn überhaupt, dann kannte ihn sein Opfer nur flüchtig. Vielleicht näherte er sich einmal der Frau, die er offenbar begehrte, und wurde von ihr zurückgewiesen. So beschrieben einst Ermittler der Abteilung Operative Fallanalyse des Berliner Landeskriminalamtes (LKA) den Mann, der Ilse-Maren Graalfs umgebracht hatte.
Dagegen, so vermuteten die Fahnder, musste der Täter sein Opfer gut gekannt haben. Er wusste viel über Ilse-Maren Graalfs. Vielleicht, weil er die Frau heimlich beobachtet hatte, sie regelrecht stalkte. Doch das Profil, das die Ermittler erstellten, führte bis heute nicht zur Ergreifung des Mörders der 55-jährigen Ex-Frau eines vermögenden Bauunternehmers.
Seit nunmehr 25 Jahren bleibt der Täter ein Phantom.
Der Mord an Ilse-Maren Graalfs ist eines der mysteriösesten Kapitalverbrechen in Berlin, das die Ermittler mittlerweile ein Vierteljahrhundert beschäftigt. Mal mehr, mal weniger. Wie es ist bei solchen Fällen – nach so langer Zeit. Da werden die Ermittlungsakten geschlossen, bis es einen neuen Hinweis gibt, der die Fahnder dem Täter ein Stück näher bringen könnte.
Dabei gibt es in diesem Fall durchaus einige Spuren, die der Mörder hinterließ. Und es gibt Gegenstände, die aus der Wohnung des Opfers fehlen, die der Täter mitgenommen haben dürfte und die bisher nicht wieder aufgetaucht sind. Trotzdem ist der Mord noch immer unaufgeklärt. „Der Fall liegt bei der 6. Mordkommission“, sagt der zuständige Staatsanwalt Johannes Jost.
Ein Jäger findet eine enthauptete Leiche
Am 22. März 1997 wartet die Tochter von Ilse-Maren Graalfs in einem Café auf ihre Mutter. Es ist Sonnabend, und die beiden Frauen sind verabredet. Vermutlich lose, denn als Ilse-Maren Graalfs nicht erscheint, macht sich ihre Tochter keine großen Gedanken und ist nicht beunruhigt. Sie habe vermutet, so wird sie es später den Ermittlern erzählen, dass ihre Mutter die Osterfeiertage bei ihrem Freund in Hamburg verbringen werde.
Am Dienstag darauf geschieht etwas rund 200 Kilometer vom Wohnort von Ilse-Maren Graalfs entfernt. Ein Jäger spaziert mit zwei Bekannten durch ein abgelegenes Vogelschutzgebiet in Mecklenburg-Vorpommern. In einem Bewässerungskanal auf den Lewitzer Wiesen nahe Schwerin macht der Jäger eine grausige Entdeckung.
Eine Leiche treibt bäuchlings in dem trüben Wasser, das sich 500 Meter von der Autobahn zwischen Berlin und Hamburg entfernt durch das Vogelschutzgebiet schlängelt. Es ist der Leichnam einer bekleidete Frau. Nur ohne Kopf. Jemand hatte der Leiche den Kopf abgetrennt.
Doch wer ist die Frau aus dem Kanal? An dem geborgenen Körper finden sich keine äußeren Verletzungen. Die Unbekannte war offenbar gesund. Sie wurde nicht vergewaltigt. Trotz intensiver Untersuchungen können die Gerichtsmediziner nicht feststellen, wie die Frau zu Tode kam. Jedoch sind sich die Experten sicher: Der Kopf wurde erst nach ihrem Tod abgetrennt. Womit ist unklar.
Vermutlich, so sagen es die Mordermittler später, habe der Täter mit der Enthauptung die Identifizierung der Toten erschweren wollen. Damit scheint er zunächst Erfolg zu haben. Denn auch anhand der Vermisstendateien der Polizei kommen die Fahnder nicht weiter. Zu dieser Zeit wird eine Frau, deren Beschreibung zu der Leiche passt, nicht vermisst.
Nirgendwo in Deutschland.
Dass es sich bei der Toten um Ilse-Maren Graalfs handeln könnte, können die Ermittler zu dieser Zeit nicht einmal ahnen. Sie wissen nicht, dass die Frau verschwunden ist. Denn erst am 2. April 1997, also am Dienstag nach Ostern und damit acht Tage nach dem Leichenfund, geht der Sohn der 55-Jährigen zur Polizei und meldet seine Mutter als vermisst. Die vermögende Frau hatte die Feiertage nicht, wie ihre Kinder vermuteten, bei ihrem Lebensgefährten in Hamburg verbracht.
Sehr schnell gehen die Ermittler einer Mordkommission davon aus, dass die verschwundene Frau einem Verbrechen zum Opfer fiel. Denn als sie einen Tag nach der Vermisstenanzeige die Wohnung von Ilse-Maren Graalfs in der Xanthener Straße in Wilmersdorf durchsuchen, sieht alles danach aus, als hätte die Geschäftsfrau nur mal kurz das Haus verlassen.
In der Wohnung gibt es keine Einbruchsspuren
In der Waschmaschine steckt noch Wäsche, in der Küche der 136 Quadratmeter großen Drei-Raum-Wohnung, in der Graalfs allein lebt, steht benutztes Geschirr auf der Anrichte. Einen Suizid schließt die Polizei aus. Ilse-Maren Graalfs gilt als selbstbewusste Frau, die in der sogenannten besseren Gesellschaft verkehrte und das Leben liebte. Auch eine Entführung kommt nicht infrage. Niemand hat eine Lösegeldforderung gestellt.
In der Wohnung gibt es keine Einbruchsspuren. Das deutet auf zwei Möglichkeiten hin. Entweder ließ die Frau ihren Mörder freiwillig in die Wohnung, weil sie ihn kannte. Oder aber, was die Polizei später für wahrscheinlicher halten wird: Ilse-Maren Graalfs wurde an einem anderen Ort von dem Täter überrascht und getötet, und der Mörder benutzte die Schlüssel zur Wohnung, die das Opfer vermutlich bei sich trug.
Ilse-Maren Graalfs ist seit der Scheidung vor 15 Jahren von ihrem Mann finanziell unabhängig und steht beruflich auf eigenen Füßen. Die als vermögend geltende Frau arbeitet als Hausverwalterin und fährt einen Firmenwagen – einen metallic-schwarzen Mercedes 180 C.
Die Ermittlungen ergeben, dass die Vermisste letztmalig am 21. März 1997 gegen 18 Uhr in ihrem Büro in der Trabener Straße in Wilmersdorf gesehen wurde. Dort sprach sie mit einem Mieter und telefonierte wohl auch mit ihrem Chef in Hamburg, der auch ihr Lebensgefährte war. Am späteren Abend soll zudem eine Zeugin Graalfs' Dienstwagen vor dem Büro gesehen und sich gewundert haben, dass die Hausverwalterin zu dieser Zeit offenbar noch arbeitete.
Auch der Firmenwagen ist weg.
Er steht weder vor dem Büro noch vor der Wohnung der 55-Jährigen. Die Polizei geht mit einem Foto und der Beschreibung der vermissten Frau an die Öffentlichkeit: Ilse-Maren Graalfs ist eine attraktive Erscheinung, sie ist 1,59 Meter groß, hat schulterlange, braungraue Haare und graublaue Augen.
Ermittler gehen zunächst von Raubmord aus
Auch ein Bild des Dienstautos geben die Ermittler an die Medien. Die Fahndung nach dem Fahrzeug hat Erfolg. Am 11. April wird der Wagen in Hamburg gefunden. Er steht in der Münzstraße in der Nähe des Hauptbahnhofs. Fahrzeugschlüssel und Papiere fehlen.
Doch wo ist Ilse-Maren Graalfs?
Erst Ende April kann die Frage beantwortet werden. Anhand von Röntgenaufnahmen der Hüfte gelingt es den Gerichtsmedizinern in Mecklenburg-Vorpommern, die Identität der bis dahin unbekannten Toten ohne Kopf aus dem Kanal der Lewitzer Wiesen zu klären. Es ist die vermisste Ilse-Maren Graalfs aus Berlin. Die Polizei geht davon aus, dass der Fundort der Leiche nicht der Tatort ist.
Zunächst hegen die Fahnder den Verdacht, dass Graalfs Opfer eines Raubmordes wurde. Denn in dem Wandsafe in der Wohnung der Toten fehlt Schmuck im Wert von 50.000 Euro, darunter eine wertvolle viereckige Cartier-Damenarmbanduhr mit einem schwarzen Lederarmband, ein Perlencollier und ein mit Brillanten besetzter Ring. Und noch ein paar Dinge ließ der Täter mitgehen: eine Sammlung kleiner, für ihn wertloser Elefanten. Der Mörder könnte sie als Andenken mitgenommen haben.
Und das persönliche Adressbuch der Toten.
Da die Leiche von Ilse-Maren Graalfs auf der Hälfte der Strecke Berlin–Hamburg und ihr Dienstwagen in der Hansestadt gefunden wurde, vermuten die Fahnder, dass der Mörder eine falsche Spur legen wollte. Der Täter wusste offenbar von der Beziehung seines Opfers zu einem in Hamburg lebenden Mann. Der Lebensgefährte der Ermordeten scheidet jedoch als Tatverdächtiger aus.
Fünf Jahre lang gibt es keine weiteren Hinweise auf den Mörder, der Fall gerät langsam in Vergessenheit. Dann wird er wieder aufgerollt. Spezialisten der im Jahr 1999 gegründeten Abteilung Operative Fallanalyse des Berliner Landeskriminalamtes schauen sich die Akten noch einmal an. Die sogenannten Profiler werden immer dann gerufen, wenn die Mordkommission nicht weiterkommt. Meist sind es alte, außergewöhnliche Fälle, zu denen sie gerufen werden, und die sie noch einmal unter die Lupe nehmen: ungeklärte Kapitalverbrechen und Sexualstraftaten.
Zwei Wochen durchforsten die Ermittler der Operativen Fallanalyse die bis dahin in acht Bänden zusammengetragenen Unterlagen zum Mordfall Graalfs, studieren und interpretieren Spuren, versuchen, die Tat so genau wie möglich zu rekonstruieren und Rückschlüsse auf das Verhalten des Mörders und damit seine Persönlichkeit zu schließen. Sie glauben, dass der Täter eher schüchtern, ja verklemmt ist und vermutlich völlig unauffällig lebt.
Und sie geben weitere Erkenntnisse preis. Ihrer Meinung nach hielt sich der Mörder längere Zeit in der Wohnung seines Opfers in der Xanthener Straße auf, genoss die Zeit dort offenbar. Womöglich war er sogar mehrmals dort, dabei könnte er eine Art Machtgefühl ausgekostet haben, vermuten die Spezialisten der Operativen Fallanalyse. Der aus dem Safe gestohlene Schmuck könnte reiner Beifang sein, um von etwas anderem, Wichtigerem abzulenken. Und der Täter hat Trophäen erbeutet: die Elefantenfiguren gehören dazu.
Und der Kopf seines Opfers. Er fehlt bis heute.
Die Profiler machen zudem eine neue, die bis dahin wichtigste Spur, die zum Täter führen könnte, publik. Ein Anruf bei Verwandten von Ilse-Maren Graalfs, dem die Fahnder bisher wenig Beachtung schenkten, rückt in den Fokus der Ermittlungen. Ein unbekannte Mann hatte am 4. Mai 1997 auf dem Anrufbeantworter nur einen einzigen, aus vier Worten bestehenden obszönen Satz hinterlassen.
Die Stimme des Mörder auf dem Anrufbeantworter
Die Stimme auf der Mailbox gehört dem Mörder von Ilse-Maren Graalfs, da sind sich die Experten sicher. Sie gehen davon aus, dass der unbekannte Mann die Telefonnummer der Verwandten aus dem entwendeten privaten Telefonbuch des Opfers hatte. Die Polizei schaltet eine Servicenummer, unter der die Stimme des Täters abgehört werden kann. Mehrere Tausend Male wird die Nummer angewählt. Doch niemand meldet sich, der die Stimme erkennt.
Niemand entlarvt den Mörder.
Auch eine Belohnung in Höhe von 50.000 Euro, die der Ex-Mann der Ermordeten für Hinweise auslobt, die zum Täter führen, bringt die Ermittler nicht weiter. Weitere sechs Jahre gehen ins Land. 2008 werden noch einmal alle Spuren im Mordfall Ilse-Maren Graalfs untersucht.
Und tatsächlich: Dank neuester wissenschaftlicher Untersuchungsmethoden gelingt es den Spezialisten, die DNA des Täters und damit seinen genetischen Fingerabdruck zu sichern. Doch die DNA des unbekannten Mannes ist in keiner Datenbank hinterlegt. Speichelproben werden nun von allen Männern im näheren und weiteren Umfeld der getöteten Unternehmerin genommen. Beim Vergleich der analysierten Speichelproben mit der sichergestellten DNA gibt es keinen Treffer.
Der Mord an Ilse-Maren Graalfs ist noch immer nicht aufgeklärt, er ist ein Cold Case. Doch Mord verjährt nicht. Und so hoffen die Ermittler, dem Täter irgendwann auf die Spur zu kommen – vielleicht durch eines der Schmuckstücke, das er aus der Wohnung entwendet und irgendwo zum Verkauf angeboten hat. Oder durch den Kopf, der noch gefunden wird.
Aber vielleicht ist der Mörder selbst längst tot.
Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.