Liebe, Wahrheit, Tod: Die literarische Sensibilität von Hervé Guibert
Zwei deutsche Neuübersetzungen des französischen Autors spüren dem schwierigen Wechselspiel von Krankheit und Berührung nach. Das könnte kaum aktueller sein.

Berlin-Im Evangelium des Johannes findet sich eine bis heute ikonische Szene. Nachdem Jesus vor seinem bereits leeren Grab Maria Magdalena erschienen war, dringt er durch verschlossene Türen und zeigt sich seinen Jüngern. Während die meisten Anwesenden von der Wirklichkeit dieses Ereignisses überzeugt sind, meldet Thomas, auch Didymus genannt, Zweifel an: „Wenn ich [...] meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.“ (Joh 20,24)
Acht Tage später dringt Jesus wieder in das verschlossene Haus der Jünger ein und erfüllt dem „ungläubigen Thomas“ mit fordernden Worten seinen Wunsch: „Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ (Joh 20,27) Dieses sinnliche Zeugnis, das tastende Betrachten und Berühren der Wundmale, vermag schließlich den Zweifel zu besiegen. Thomas beginnt zu glauben, dass der Heiland wirklich gelitten, wirklich gestorben und von den Toten auferstanden ist. Jesus erkennt diese Notwendigkeit an, tut gar „viele andere Zeichen […] vor den Augen seiner Jünger“ (Joh 20,30), weist aber zugleich auf den in dieser Ausrichtung auf sinnliche Erkenntnis verborgenen „Unglauben“ hin: „Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ (Joh 20,29)
Nicht der sinnliche Beweis beglaubigt, allein der Glaube macht das Unverfügbare auf gewisse Art und Weise „verfügbar“. Ähnliches trifft auch auf unser Leben zu: Können wir andere oder gar uns selbst nur unmittelbar, nur mithilfe unserer Sinne erkennen, die das Wesentliche vor uns verbergen? Ermöglicht uns Literatur vielleicht eine andere Form der Blindheit? Eine nicht-sinnliche Berührung, die einerseits das Geheimnis bewahrt und andererseits dennoch Erkenntnis ermöglicht? Und schließlich: Was, wenn diese Blindheit notwendig ist, um zu überleben, um eine Krankheit zu ertragen, die den Tod bedeutet?

Am 2./3. Oktober 2021 im Blatt:
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Für Hervé Guibert waren Fragen der Berührung zentral
Hervé Guibert (1955-1991), französischer Schriftsteller und Freund des Philosophen Michel Foucault (1926-1984), hat sich in zahlreichen Erzählungen, Romanen und Fragmenten an einer derartigen Berührung versucht. Anlässlich seines nun fast 30 Jahre zurückliegenden Todes erscheinen im August Verlag zwei Bände, anhand derer sich Guiberts tastende Suche nachverfolgen lässt.
In der 1986 auf Französisch veröffentlichten und erst postum ins Deutsche übersetzten Erzählung „Blinde“ deutet er eine Poetik an, die das Sinnliche gleichzeitig zu erfassen und zu übersteigen sucht. So erkunden seine blinden Hauptfiguren Josette und Robert ihre Umgebung, eine etwas außerhalb gelegene Blindenanstalt, vornehmlich tastend: Sie befühlen Leder und Nerz, spielen Mikado und machen ihre Körper zu einer Karte, deren Umrisse sie mit ihren eigenen Fingern immer wieder neu ziehen.
Obwohl dieses Zusammenleben irgendwann gestört und ein tragisches Ende nehmen wird, erschaffen sich die beiden durch ihr Tasten innerhalb der Welt eine eigene Welt, die das strenge Regime der Blindenanstalt aufhebt. Regeln werden ignoriert, durchbrochen oder neu interpretiert. Ähnliches gelingt dem Autor durch eine rohe, ihren Gegenständen fast vollständig verfallende Sprache. Ausführlich ist von „Ausdünstungen“, von „Schweißgeruch“ oder von „kaltem Fett“ die Rede.
Guiberts Sprache verweist nicht bloß illustrativ auf Oberflächen oder Gerüche, sondern lässt eine imaginäre Welt jenseits unmittelbarer Reize entstehen. Wenig überraschend war Guibert ein enger Freund Michel Foucaults. Der französische Philosoph befasste sich eingehend mit den Prozeduren der Einsperrung, Ausschließung oder Kontrolle der Kliniken und Gefängnisse – und betonte dabei stets das subversive Potenzial, das ihnen entgegengesetzt werden kann.
Foucault spielt in Guiberts Schriften eine zentrale Rolle
In dem 1990, kurz vor Guiberts Tod veröffentlichten Roman „Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat“, der in der erstmals 1991 publizierten Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel wieder aufgelegt wird, spielt Foucault die Hauptrolle.
In der Gestalt des Muzil lässt Guiberts Erzähler gewissermaßen maskiert die letzten Jahre des Philosophen, seinen Umgang mit der HIV/Aids-Diagnose – und sein Sterben Revue passien. Neben Muzils Bemühungen, sein „Buch ohne Ende,“ das die „Grundlagen des Konsens über die Sexualität über den Haufen warf“, fertigzustellen, treten auch hier wieder drastische Darstellungen von Krankheit, medizinischer Behandlung und Tod in den Vordergrund.
So wird der von ständigen Hustenanfällen geplagte Muzil von seinem Lebensgefährten Stéphane „in seiner Küche […] bewusstlos in seinem Blut“ aufgefunden, während ihm später das „Hirn punktiert“ wird, woraufhin er „das Mal des Lochs auf der Stirn“ trägt. Sein Leichnam verwandelt sich schließlich in den letzten Zeugen der „Todesursache: Aids“. Doch diese drastischen Behandlungen werden immer wieder von Momenten der Zärtlichkeit unterbrochen. So hält ein im Ägyptenurlaub aufgenommenes Foto in Muzil die Erinnerung wach und durchbricht auf diese Weise seine Angst, dass sein Körper seine „Geschichte und Würde“ verliert, dass „nichts mehr von ihm bleibt als ein willenloser Fleischklumpen, der hin- und hergeschoben wird, gerade noch eine Karteinummer, ein Name, der durch die Verwaltungsmühle gedreht wird“.
Muzil verbietet sich selbst, über seine Krankheit zu sprechen, sogar gegenüber seinem Lebensgefährten. Die Schwester und nahe Verwandte des Philosophen planen, die Todesursache aus den Archiven zu tilgen – aus Sorge um sein Andenken. Der Erzähler aber kann nicht vom Sprechen lassen. Er hält seine Krankenbesuche bei Muzil fest, „Punkt für Punkt, Geste für Geste, und ohne das mindeste Detail unseres durch die Umstände verknappten und furchtbar eingeschränkten Gesprächs auszulassen“, ohne allerdings den in der Luft liegenden „Verrat“ zu verschweigen. Der Erzähler fühlt sich wie ein „Spion, wie ein Gegner“, wie der Zeuge einer Wahrheit, die Muzil aus seinem Leben streichen wollte. Fragen werden akut, Fragen wie: „Mit welchem Recht schrieb ich all dies? Mit welchem Recht fügte ich der Freundschaft solche Verletzungen zu? Und noch dazu jemandem, den ich aus ganzem Herzen verehrte?“
Guiberts Erzähler gibt sich selbst eine ungewöhnliche Antwort: Er sei „vollkommen dazu befugt“, da er weniger die Leiden des Freundes beschreibe als die eigene Zukunft. Neben einer Freundschaft verbinde ihn ein „thanatologisches Schicksal“ mit Muzil, das durch seine Aufzeichnungen dokumentiert und beglaubigt werde. Die sinnlich dichte Beschreibung des einzelnen Lebens schafft so eine geteilte Erzählung, die das Leid des Kranken und Sterbenden trotz aller Singularität erfahrbar werden lässt. Die fiktionalisierte Krankheit, die Lektüre, kann auf diese Weise jenseits ihrer konkreten Grausamkeit – wie es wiederum Guiberts Erzähler formuliert – zu einer „sehr langen Treppe, die mit Sicherheit zum Tod führt, aber deren jede Stufe ein Lernen ohnegleichen bedeutet“ werden. Zu einem Ereignis, das „Zeit zum Sterben gibt, und die dem Tod Zeit zum Leben gibt – Zeit, die Zeit zu entdecken und endlich das Leben zu entdecken“.
„Das Krankenhaus ist die Hölle“
In seinem 1991 entstandenen Krankenhaustagebuch „Zytomegalievirus“ findet Guibert zur Grenze zwischen Fakt und Fiktion zurück. Ein Buch, das die Behandlung einer aus der Immunschwäche resultierenden, möglicherweise zur Erblindung führenden Erkrankung dokumentiert und von Hinrich Schmidt-Henkel hier zum ersten Mal ins Deutsche übertragen wird.
Während Guiberts „Freund“ die Prozeduren und das Sterben in noch größere Zusammenhänge, in einzelne Szenen, einbettet, werden die Lesenden hier mit einem nur durch die Chronologie strukturierten Mosaik von Beobachtungen, Betrachtungen und Sentenzen konfrontiert. Apodiktische Urteile wie „Das Krankenhaus ist die Hölle“ stehen dabei neben Beschreibungen, die an die expressive Sprache der „Blinden“ erinnern: „Vielleicht ist eine platzende Vene sehr schön: ein Springbrunnen, der alles vollspritzt, wunderbar rotes Blutfeuerwerk, ein Strauß von Blut. Sobald ich daran denke, fängt mein Blut in den Plastikschläuchen an zu brodeln. Nein, die Vene platzt nicht, das ist nur Blutrückfluss“.
In der dichten, fast bis zur Unerträglichkeit gesteigerten Beschreibung übersteigt Guibert seine Gegenstände und wird auf diese Weise zum Zeugen einer Wahrheit des Leidens, die sich nicht sinnlich erfahren lässt. Im Angesicht der Katastrophe, die ihm bevorsteht, tröstet ihn diese übersinnliche Wahrheit. Wie die passionsähnliche Beschreibung im „Freund“ macht sie das eigene Leben erst lebbar: „Schreiben ist auch eine Art, die Zeit zu strukturieren und sie sich zu vertreiben.“
Guiberts Schriften zeigen so auf, wie ein queeres Erinnern der Aids-Krise aussehen könnte. Einer Krise, die im Zuge von Präventionskampagnen, der Entwicklung neuer Therapiemethoden und der Einführung der Präexpositionsprophylaxe, kurz PrEP, weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden ist. Guibert erzählt nicht bloß von einer vergangenen Zeit und dem homophoben, uns heute fremd erscheinenden Umgang mit einer Krankheit.
Dem medizinischen Blick, der nicht an der Person, sondern nur der Prozedur interessiert ist, setzt Guibert eine Perspektive des Leidens, des leiblichen Ernstes entgegen. Die Verletzlichkeit der Körper wird an ihnen selbst ausgestellt.
Diese aber lässt sich selbst nicht sinnlich erkennen, besonders dann nicht, wenn die Krankheit in ihrer grausamen Wirklichkeit aus dem öffentlichen Leben verschwunden ist: Der Weg des „ungläubigen Thomas“ ist verstellt. Es bleibt nur ein vom sinnlichen Faktum ausgehendes Erinnern, das in der nicht-berührenden Form der Fiktion sich dieser unsere Sinne übersteigenden Wahrheit annähert.
Hervé Guibert: „Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat“. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel, August Verlag, Berlin 2021, 280 S., 20,- Euro.
Hervé Guibert: „Zytomegalievirus, Krankenhaustagebuch“. Aus dem Französischen und mit einem Kommentar von Hinrich Schmidt-Henkel, August Verlag, Berlin 2021, 80 S., 20,- Euro.
Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.