Lob der Feigheit

Wenn mich Menschen aus der Ukraine für diesen Text kritisieren, werde ich mich nicht verteidigen. Ich werde lediglich froh sein, dass sie noch am Leben sind.

Wandrelief der sowjetischen Armee an einer ehemaligen russischen Kaserne bei Templin. Aufgenommen im vergangenen Jahr.
Wandrelief der sowjetischen Armee an einer ehemaligen russischen Kaserne bei Templin. Aufgenommen im vergangenen Jahr.Uwe Hauth

Die ganze Welt bewundert die Tapferkeit der Ukrainerinnen und Ukrainer. Das Vorbild dieser Menschen ist Präsident Selenskyj. Er ist bereits ein Nationalheld. So einer, dessen Standbild früher mal in Bronze gegossen worden wäre. Aber er hat das gar nicht nötig, denn er hat sich doch längst sein modernes Denkmal geschaffen in der ewigen Unvergesslichkeit des Internets und den sozialen Netzwerken. Er ist ein wahrer Held der jungen Generation. Durch sein schieres Charisma begeistert er die Leute, sich, David gegen Goliath, gegen die wahnwitzige Übermacht einer der mächtigsten Armeen der Welt zu stellen. Mit improvisierten, selbst gebastelten Waffen. Kapitulation kommt nicht in die Tüte: Die Leute sind entschlossen, oder zumindest aufgefordert, zu kämpfen „bis zum letzten Blutstropfen“.

Bis zum letzten Blutstropfen? Das ist natürlich nur ein Sprachspiel. Niemand kann sich schließlich auf den Beinen, geschweige denn eine Waffe halten, der nur noch einen einzelnen Blutstropfen im Körper hat. Selenskyj kann das ja wohl nicht ganz ernst meinen?

Obwohl: Vielleicht sind echte ukrainische Helden ja ausdauernder als wir verwöhnten EU-Bürger im Westen? Jedenfalls, wer kein Held sein und feige aus dem Land fliehen will, wird durch die Grenzbeamten daran gehindert.

Ich schreibe diesen Text am Montag, dem 7. März 2022. Die Kämpfe in der Ukraine gehen weiter, der Sturm auf Kiew steht mutmaßlich bevor. Unmöglich zu sagen, was noch geschehen wird in den nächsten Tagen. Aber es gibt etwas, das sich nicht mehr ändern wird, das unwiderruflich ist: nämlich wer heute bereits tot ist.

So wie Natascha, 42. Eine Frau. Eine Transfrau, um genau zu sein. Ich erfuhr von ihr aus meinem Netzwerk von Prostituierten, denn eine solche war sie. Geboren in der Ukraine – ein Land, in dem Prostituierte strafrechtlich verfolgt werden und Transsexualität geächtet wird. Exil in Istanbul. Dann Rückkehr in die Ukraine, voller Hoffnung. Bei Kriegsausbruch der Versuch zu fliehen. An der Grenze abgewiesen – als vermeintlich männliche Person. Verschollen seit Anfang März in Kiew. Sie verabschiedete sich mit einem Videotelefonat, mit der Kalaschnikow in der Hand. An den letzten Nachrichten auf der Nachrichten-App blieb nur ein einzelner grauer Haken – Nachricht nicht zustellbar.

Unser Autorin und Kolumnistin Hanna Lakomy
Unser Autorin und Kolumnistin Hanna LakomyUwe Hauth

Was bedeutet es überhaupt, Zivilisten aufzufordern, sich an Kampfhandlungen zu beteiligen? Aus der Ukraine wie auch aus aller Herren Länder? Ohne Uniformen und Ausbildung – auch nicht über die Regeln eines Krieges. Nach der Haager Landkriegsordnung wären sie nur bedingt geschützt, wenn sie in Kriegsgefangenschaft geraten – je nachdem, ob der Gegner sie als Kombattanten erkennen kann und diesen Status dann zum Beispiel im Falle von Kriegsgefangenschaft auch anerkennt. Nur für Kombattanten gilt das Den Haager Abkommen, das unter anderem Folter von Kriegsgefangenen verbietet. Wer sich ohne Kombattantenstatus an Kämpfen beteiligt,  hätte den Status eines ungesetzlichen Kombattanten, oder einfach eines Kriminellen. Das gilt übrigens auch für Cyberkriminelle und Hacker. Keine Regierung der Welt kann irgendetwas für sie tun.

Sterben im Krieg – aber wie? Eine Person wie Natascha, feminin und grazil, durch ihre Operationen stark verweiblicht. Selbst mit soldatischer Montur, männlich verkleidet, ohne Make-up und lange Haare nicht männlich definierbar, sondern, für Außenstehende, irgendwie seltsam – und dann mit Papieren, die sie als männlich auswiesen. Ein Objekt für Spott und Hass. Sie wusste, dass sie weder fliehen noch sich verstecken konnte. Ihre Angst war sehr konkret. Was wäre schlimmer: Getötet werden von russischen Bomben? Gequält oder totgeschlagen werden von den eigenen Landsleuten? Geköpft von Tschetschenen? Und dies, bevor oder nachdem man selbst noch Menschen getötet hat, töten musste? Tot als vermeintlicher Mann. Als jemand, der sie nicht sein wollte. Betrogen um den eigenen Tod.

Oder Selbstmord – schnell und leise. Ohne mehr Leben auf dem Gewissen zu haben als nur das eigene. Ihre engste Vertraue hier in Deutschland geht davon aus, dass sie sich nach ihrem Abschiedstelefonat erschossen hat.

Ich bin vielleicht eine dekadente Lifestyle-Hure und verstehe nicht die Dimension dieses Konflikts. Aber ich habe doch durch meine Tätigkeit ein Verständnis dafür, dass man Freiwilligkeit gar nicht hoch genug schätzen kann. Und für mich macht es einen Unterschied, ob man sich entscheidet, den Heldentod für die Nation zu sterben – freiwillig – oder ob man mit staatlicher Gewalt daran gehindert wird, aus einem Kriegsgebiet zu fliehen.

Ich finde das unmenschlich. Und nicht zu rechtfertigen. Auch nicht durch die drohende Besatzung durch einen Aggressor.

Verrohung

Im Nachrichtenstudio erschien ein General. Ich fand ihn erst amüsant, denn er sah aus wie ein Nussknacker. Was er aber sagte, war: Alarm, Alarm! Deutschland steht wehrlos da! Zu den Waffen, Deutschland, die Russen kommen!

Nach der Kehrtwende der deutschen Regierung, Waffen in das Krisengebiet zu liefern und hundert Milliarden in die eigene Rüstung zu stecken (Rüstungsindustrie ist bei Anlegern wieder salonfähig!), stand Friedrich Merz stramm wie ein erigierter Penis. Krieg und Geld für Kriegsspielzeug, da macht die CDU mit! Bum, bum, bum, hurra, hurra!

Durch die Medien weht der neue, schneidige Wind. Die Falken schreien zur Verteidigung des Vaterlandes und des Bündnisses der ganzen freien Welt und allen, die dazugehören wollen – oder dürfen.

Die Liberalen verbinden ihre Freiheitsliebe mit Opferbereitschaft: Lieber tot als rot, schreibt ein Journalist auf Facebook. Der kalte Krieg hat dieser Generation den Heldentod vorenthalten. Für unser aller Freiheit, für die Demokratie, für das Gute – was denn sonst.

Eine Herr-der-Ringe-Mentalität bricht sich Bahn: Deutschland, das Auenland, ist aus dem Schlummer erwacht, Putin ist Sauron, der uns alle knechten will, Wladimir, der Lügner, der Teufel. Es geht jetzt um den Kampf gegen das ultimativ Böse – liest man staunend in der FAZ.

Ich mochte Tolkien nie. Der kitschige Gut-Böse-Dualismus von Fantasy-Literatur war mir immer zu unterkomplex. Elfen und Ritter? Was für pubertierende Jungs, die auch Ballerspiele am Computer spielen. Nein danke. Ich habe doch als Schülerin schon meinen Dostojewski gelesen. Aber den meisten Deutschen scheint die Gedankenwelt von Frodo Beutlin anscheinend verwandter als die von Lew Nikolajewitsch Myschkin.

Woher sonst die Sympathien für die Nicht-ganz-Freiwilligenarmee der Ukraine? Die Denunziation des Pazifismus als Kollaboration mit dem Feind. Die Heimat mit dem Sturmgewehr verteidigen zu müssen – Natascha wusste es – impliziert eben auch die Übertragung des heroischen Männlichkeitskults auf die Sexualität, der Zwang zur Verachtung für alles Schwache, Effeminierte – in einer ohnehin homophoben Gesellschaft. Die Verschmelzung der Individuen zum Volkskörper. Heldentum und heroischer Todeskult – als größte Erfüllung für sich selbst und gerne auch andere, wenn CDU-Veteranen über sechzig jetzt die Wiedereinführung der Wehrpflicht fordern.

Nie wieder Krieg – nie wieder Sieg!

Zwischen den Fronten ist der beste Platz, um erschossen zu werden. Man ist hier schnell ein „Putinversteher“, wenn man sich an der Kriegshetze nicht beteiligen will. Mal abgesehen davon, dass gerade Pazifisten Putin schwerlich verstehen dürften: Da frage ich mich, wo dieser schräge Begriff herkommt,  von wo er abgeleitet ist. Mir fällt da nur ein: „Frauenversteher“ – es ist immer aufschlussreich, wenn „Verstehen“ etwas Negatives sein soll.

Dafür verstehen seit Kriegsbeginn gerade die, die andere als Putinversteher diffamieren, ihrerseits Putin nach eigenem Bekunden am allerbesten – und erklären uns mit stolzer Selbstgewissheit, was er vorhat.

Die strategischen Behauptungen „Putin kommt bis an die Berliner Mauer!“ und „Die Nato umzingelt uns!“ sind beide gleich phantasievoll wie gefährlich. Jegliche öffentliche Spekulation über die vermeintliche Niedertracht des Gegners heizt das Kriegsgeschehen an. Es ist leicht, sich vom Hass mitreißen zu lassen. Doch Frieden, oder auch nur ein Waffenstillstand ist nur möglich, wenn beide Seiten Disziplin aufbringen. Das heißt für uns, die schäumende Empörung zu bezwingen, die Putin bei uns auslöst. Wie sehr man sich selbst auch im Recht wähnt. Wer Frieden allein durch die Kapitulation des Gegners akzeptiert, will nicht Verständigung, er will Vernichtung. Wenn man den Feind aber nicht vernichten kann, und zwar auf Lebenszeit, muss man Kompromisse akzeptieren. Wer das nicht über sich zu bringen vermag, sollte sich eingestehen, dass er gar keinen Frieden will – sondern, mit leidenschaftlichem Nachdruck, nichts als den Krieg.

In westlichen Staaten demonstrieren die Menschen für das Ende der Kämpfe und gegen Putin. Sie sind nicht neutral, sondern solidarisch, also Partei. Sie fordern das Ende der Gewalt, aber gleichzeitig Sanktionen, Strafen, Rache. Es sind keine Friedensdemonstrationen, es sind Kriegsdemonstrationen. Nur in Russland selbst sind heute Friedensdemonstrationen möglich. Und nur dort sind sie für Putins Krieg eine Bedrohung.

Man wird mir für diesen Text Vorwürfe machen, es sei nicht der Moment für Pazifismus, weil wir uns längst im Krieg befänden und es jetzt darauf ankäme, sich zu verteidigen. Alles andere sei privilegierte Prinzipienreiterei.

„Aber Hitler konnte nur durch Waffengewalt besiegt werden!“ – Zu dem Zeitpunkt, als die Alliierten sich endlich gegen Hitler wandten, stimmte das sicher. Aber das ist altes Denken: das Denken vor den Atomwaffen. Wegen der Atomwaffen ist die Welt eine andere. Eine Welt, in der es unter Großmächten nie wieder Sieger und Verlierer geben darf. Es kann keine Hegemonie geben, weder militärisch, noch ethisch-ideologisch. Nur ein empfindliches Gleichgewicht. Ein schmaler Grat, der uns von Chaos und Apokalypse trennt. Vorsicht vor der Sucht zu siegen.

Im Nebel des Krieges

Was, wenn es nicht darauf ankommt, ob die Ukraine an Putin fällt – sondern nur, wann? Und auf Kosten wie vieler Opfer?

Mit welchem Recht verlangt ein Präsident heutzutage von seiner Bevölkerung, ihr Leben aufzuopfern, ob sie es wollen oder nicht? Nur um ein einzelnes staatliches Gebilde in seinen bestehenden Grenzen zu erhalten?

Ein Foto von vier jungen Männern. Jugendliche in sportlicher Kleidung. Lässige Jungs, wie fast überall auf der Welt. Ihre Gesichter sind bartlos und zart, ihr Ausdruck auf süße Weise ernst. Sie stehen in einer Straße mit Mietskasernen. Hinter ihnen sind Sandsäcke aufgestapelt. Sie tragen ihre Skateboard-Knieschützer, haben Schlafsack und Isomatte dabei wie fürs Camping. Und Kalaschnikows. Sie sind entschlossen, Kiew zu verteidigen. Sie sind gerade erst 18 – laut BBC-Fotograf Jeremy Bowen.

Sie erinnern mich sofort an die Jugendlichen in dem Film „Die Brücke“ von Bernhard Wicki. Mir ist klar, dass die Ukraine nicht Nazi-Deutschland ist und an dem Angriffskrieg des Aggressors Putin unschuldig – wenn Staaten unschuldig sein könnten.

Aber was wussten schon die jungen Rekruten von Hitlers Volkssturm über historische Schuld? Auch diese Jungs waren Feuer und Flamme. Auch für sie war die Niederlage keine Option. Auch sie wollten Helden sein. Und wer kein Held sein wollte, war ein Feigling und wurde mitunter von seinen vaterlandsliebenden Kameraden als Feigling diffamiert – und gelyncht. (Es gibt da so eine Gedenkstätte in Wilmersdorf, Berliner Ecke Uhlandstraße.)

Es gehört zum Selbstverständnis westlicher, freiheitlicher Demokratien, dass der Staat um seiner Menschen willen da zu sein hat – und nicht die Menschen um des Staates willen. Das Opfer des Lebens widerspricht der Menschenwürde, die über allen politischen Interessen steht.

Militärstrategen und Politikwissenschaftler hegen Zweifel daran, dass Putin bis zur Spree kommen könnte oder auch nur wollte. Sie vermuten, dass Putin sich schon allein mit der Ukraine völlig übernimmt: finanziell, militärisch und politisch. Dass das besetzte Gebiet auf Dauer nicht zu beherrschen ist. Kriege werden, wenn überhaupt, nicht schon mit dem militärischen Sieg gewonnen, sondern im Frieden danach. Was nur mit Gewalt zu halten ist, kann auf Dauer nicht bestehen. Das gilt für die Liebe und den Krieg.

Putin kann vielleicht den Krieg gewinnen. Ein Pyrrhussieg. Den Frieden gewinnt er nimmermehr. Und innerhalb Russlands tragen immer mehr Menschen ihren Protest auf die Straße.

Geduld des Lebens

Meine Großeltern haben die Niederlage ihres Staates, und meine Eltern die jahrzehntelange Besatzung durch die Russen erlebt. Es war, wenn man ihnen glauben darf, wohl das kleinere Übel. Natürlich hatte man es damals nicht mit einem Putin zu tun. Nur mit Stalin. Doch meine Großeltern waren nicht lieber tot als rot, sondern lieber lebendig als tot. Deshalb lebe heute auch ich.

Es ist Anfang März, und der Frühling ist nah. Auch in der Ukraine. Millionen von Blumen werden blühen auf der Erde dieses fruchtbaren, wunderschönen Landes. Unter welcher Fahne sie blühen, ist diesen Blumen egal.

Staaten und Grenzen sind Schall und Rauch. Das Leben ist alles.


Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.