„Ukraine-Krise ist Teil des Ringens um eine neue Weltordnung“
Russland führt einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kann man jetzt noch verhandeln? Ist Pazifismus jetzt naiv? Ein Gespräch mit Friedensforscher Reiner Braun.

Reiner Braun ist ein linker Friedens- und Klimaaktivist. Er hat sich lange für eine diplomatische Lösung im Russland-Ukraine-Konflikt eingesetzt und gilt als Russlandkenner. Russland hat nun eine Invasion gegen die Ukraine, einen Angriffskrieg, gestartet. Wir wollten wissen: Wie lässt sich in dieser Situation noch eine pazifistische Haltung aufrechterhalten?
Berliner Zeitung am Wochenende: Herr Braun, Russland greift die Ukraine an. Haben Sie diese Eskalation kommen sehen?
Reiner Braun: Ich muss offen sagen, in dieser Brutalität nein. Da befinde ich mich durchaus in guter Gesellschaft mit vielen Friedensforscherinnen, Russlandkennern, die das so auch nicht vorausgesehen haben. Trotzdem ist es für uns als Friedensbewegung eine deprimierende Niederlage, haben wir doch in den letzten Wochen mit vielen Aufrufen und Aktivitäten versucht, deeskalierend zu wirken und für Kooperation und Zusammenarbeit einzutreten. Dies nicht, weil wir Putin-Versteher sind, sondern weil Krieg niemals eine Lösung, sondern nur Tod und Leid, Elend und Flucht bringt, auf allen Seiten und für viele Menschen. Selbstkritisch ist vielleicht noch hinzuzufügen, dass wir die Rationalität der russischen Seite überschätzt haben. Unsere Grundaussage, dass der Ukraine-Konflikt eine Geschichte hat und engstens mit der Nato-Osterweiterung verbunden ist und nur durch eine kooperative Politik der gemeinsamen Sicherheit überwunden werden kann, bleibt auch nach der Aggression richtig. Das ist schwieriger, kann auch längere Zeit dauern, aber dazu gibt es keine Alternative. Nach dem Dunkel der Nacht kommt auch wieder die Sonne des Tages, so traurig aber auch zukunftsgewandt das an einem Tag wie heute klingen mag.

Timothy Snyder sagt: Es gibt einen strategischen Putin und einen ideologischen. Jetzt scheint sich der ideologische Putin durchzusetzen, der die Ukraine gewaltvoll in seine Einflusszone zurückholen will. Was sollten die Ukrainer jetzt tun?
Es wäre jetzt vermessen, den Menschen in den unterschiedlichen Teilen der Ukraine Ratschläge zu geben – sozusagen vom grünen Tisch oder dem warmen Sofa aus. Für einige in der Ostukraine hört der Beschuss auf, endet der Bürgerkrieg, sie können zurückkehren – makaber, aber wahr. Andere fliehen, wir sollten sie umgehend bei uns aufnehmen, wenn sie zu uns kommen, ohne bürokratische Hürden. Ich kann nur an Gedanken von Theodor Ebert zur sozialen Verteidigung, zur Verweigerung der Zusammenarbeit mit den Aggressoren und ihren Institutionen erinnern. Dieser gewaltfreie friedliche Protest, wenn Menschen sich millionenfach verweigern, kann für Okkupanten zu einer wirklichen Bedrohung ihrer Besatzung werden. Die Gedanken an Prag 1968 sind gar nicht so weit hergeholt – oder an Afghanistan. Der ideologische Putin war nicht immer der „ideologische“, sondern ist es, meiner Meinung nach, erst durch das geworden, was Kennan und Kissinger eine strategisch falsche Entscheidung genannt haben: die Nato-Osterweiterung. Seine chauvinistischen Großmachtträumereien basieren sicherlich auch auf der permanenten Ablehnung russischer Sicherheitsinteressen durch die Nato.
Russland hat sich aber für einen völkerrechtswidrigen Angriff entschieden. Ist eine pazifistische Haltung jetzt nicht naiv?
Für Wladimir Putin, wie übrigens auch für Zbigniew Brzezinski, ist die Ukraine ein Kettenglied. Deswegen gilt vielleicht eine weitere Lehre der Entspannungspolitiker Willi Brandt und Egon Bahr von Prag 1968: Jetzt müssen wir erst recht miteinander reden, Vertrauen wieder aufbauen. Dämonisierung ist sicher der falsche Weg. Scharfe Kritik an der Intervention Russlands ja, aber bei allen Konsequenzen sollte immer darauf geachtet werden, die Türen nicht zuzuschlagen. Deswegen wäre ein Bekenntnis des Westens zu einer Politik der gemeinsamen Sicherheit – meine Sicherheit ist nur gewährleistet, wenn auch die Sicherheit des anderen gewährleistet ist – zentral, ein Bekenntnis, das helfen würde. Ich gehe davon aus, dass es bei den Eliten Russlands unter der Oberfläche durchaus unterschiedliche Positionen zu den aktuellen Ereignissen gibt und wir alle Kräfte stärken müssen, die wieder zurück an den Verhandlungstisch wollen. Für die Friedensbewegung gilt unsere Solidarität mit allen Menschen in Russland und der Ukraine, die gegen den Krieg, für Frieden und Versöhnung auf die Straße gehen – unter wahnsinnig schwierigen Bedingungen. Vielleicht kommen wir doch noch dem – meiner Meinung nach – anstrebenswerten Vorschlag einer neutralen Ukraine näher, die Ukraine als Bindeglied zwischen Ost und West, aber auch zwischen Europa und Asien und nicht zuletzt zwischen den verschiedenen politischen Strömungen im eigenen Lande. Das ist meine Friedensvision. Vielleicht führt das auch dazu, dass ein neuer Präsident Russlands wieder in den Bundestag eingeladen wird. Ich habe Putins Rede von 2001, die die Abgeordneten stehend beklatscht und die praktische deutsche Politik dann so brüsk zurückgewiesen hat, nicht vergessen.
Putin hat sich nun aber radikalisiert, eine friedliche Koexistenz zwischen West und Ost scheint noch aussichtsloser zu sein. Wie kann Deutschland jetzt helfen, den Konflikt zu deeskalieren?
Um es deutlich zu sagen: nicht durch weitere Aufrüstung und noch mehr Truppen an der Ostgrenze EU-Europas. Die Nato gibt circa 15 Mal so viel Geld für Rüstung aus wie Russland, 1,1 Billionen zu circa 65 Milliarden, die Truppenüberlegenheit liegt bei 5 zu 1. Nein, mehr Militär brauchen wir nicht, auch nicht in Deutschland. Wir brauchen keine weiteren Waffen, keine Aufrüstung. Diese löst kein Problem, sondern wird vorhandene nur verschärfen. Kluge Ideen für einen neuen entspannungspolitischen Prozess in Europa sind gefordert, zurück zu Helsinki. Was wäre, wenn wir jetzt über eine neue europäische Friedensarchitektur nachdenken und Pläne für einen Helsinki-2-Prozess entwickeln? Dialog, Gespräche, Kooperationen, aufeinander zugehen und zuhören ist meiner Meinung nach jetzt notwendig. Ohne eine neue europäische Friedensordnung, die die Sicherheitsinteressen aller anerkennt, wird es auch keine Lösung für die Ukraine geben. Viele sagen „Minsk 2“ sei tot, aber die Grundgedanken dieser Übereinkunft, beide Seiten der Ukraine müssen miteinander reden, eine neue Verfassung und Wahlen sind notwendig, bleiben aktuell. Wie immer der Plan dann heißen mag. Als erstes brauchen wir einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine, und alle Truppen müssen zurück in ihre Heimatkasernen. Die Friedensbewegung kann zu diesem Entspannungsprozess einen wichtigen Beitrag durch eine Volksdiplomatie von unten leisten. Notwendig sind Gespräche, Besuche, Diskussionen mit allen Seiten. Dies kann ein neues Klima der Kooperation und des Vertrauens eröffnen. Kooperationen zwischen Menschen und Institutionen können die politischen Prozesse positiv beeinflussen.
Welche Auswirkungen hat dieser Konflikt auf die geopolitische Situation. Erleben wir eine neue Weltordnung beziehungsweise Verschiebung?
Wir sind mitten drin im Ringen um eine neue Weltordnung, wir haben besonders durch die Entwicklung in China, aber auch in Indien und anderen Schwellenländern eine tektonische Verschiebung der internationalen Kräftekonstellation. Um es simpel auszudrücken: Die 500 Jahre Herrschaft des weißen Mannes (einschließlich der weißen Männer in den USA) kommt unweigerlich zu einem Ende. USA und Europa werden ökonomisch, politisch, aber auch moralisch (nicht zuletzt durch die Interventionskriege) schwächer, China wird deutlich stärker, die Schwellenländer wie Indien gewinnen an Einfluss, Asien ist der Wirtschaftsriese der Zukunft, Russland wieder ein politischer und militärischer Faktor. Die Ukraine-Krise ist Teil des Ringens um diese neue Weltordnung als Kettenglied zwischen Europa und Asien. Durch ihre Einbeziehung in EU-Europa und die Nato wollte man eine Schwächung Russlands mit seinen traditionellen engen Beziehungen zur Ukraine erreichen. Die Dominanz kapitalistisch westlicher Macht wird deutlich schwächer, das westlich liberale Demokratiemodell verliert weiter an Einfluss und Attraktion. Diese Veränderungen sind nicht aufzuhalten, sie können unter anderem durch Kriege verzögert und dramatisiert werden. Sie können sich mit mehr oder weniger menschlichen Opfern und Leid vollziehen. Dies alles vollzieht sich unter dem Damoklesschwert der Möglichkeit des doppelten Selbstmords: schnell durch einen Atomkrieg, langsam durch die Klimakatastrophe. Deswegen ist der einzige Ausweg, der ein Überleben der Menschheit garantiert, eine Politik der Kooperation und der gemeinsamen Sicherheit. Deswegen setzen wir uns für eine neutrale Ukraine, für einen Entspannungsprozess und für weltweite Abrüstung ein.
Was erwarten Sie für weitere Schritte?
Friedensbewegter Protest auf der Straße – das werden wir mit all unseren begrenzten Möglichkeiten mit großen Gemeinsamkeiten versuchen. Wir werden den Protest nicht Kräften überlassen, die alle Interventionskriege der Bundesregierung und Kriege der USA begrüßt haben. Die Absage an Krieg und das Eintreten für Frieden ist unteilbar. Ansonsten habe ich wenig Vertrauen in die politischen Führungen in EU-Europa. Über die USA will ich gar nicht erst reden. Die ersten Reaktionen bestätigen mich. Putin führt einen Angriffskrieg, und Europa und die Nato rüsten auf und verschärfen die Konfrontation. Wie ideenlos, wie hilflos und wie ungerecht gegenüber den Menschen auf beiden Seiten. Dies bringt nicht Frieden und besseres Leben, sondern verschärft nur die Situation. Vielleicht sollten wir zu einer alten Weisheit zurückkommen. Wenn die Situation so verfahren ist wie jetzt, sollte eine Gruppe von „weisen Männern und Frauen“ – also Nobelpreisträger, Wissenschaftlerinnen, Dichter, junge Menschen und religiöse Oberhäupter – sich zusammentun, zu allen Konfliktparteien reisen und sie an einen Tisch bringen: mit der Autorität des Geistes und des Gewissens. Eine kleine Hoffnung, denn diese stirbt bekanntlich zuletzt.
Welche Herausforderungen sehen Sie auf uns zukommen?
Ich möchte diese Frage gerne persönlich beantworten: Ich sehe ein Klima des Kalten Krieges, der Dämonisierung von Kritikerinnen und Kritikern der Kriegs- und Aufrüstungspolitik auf uns und auch auf mich zukommen. Es wird nicht mehr diskutiert und seine Meinung mit Respekt ausgetauscht, sondern diffamiert. Talkshows der letzten Tage waren da schon erste schlechte Beispiele. Dieses Klima zerstört die ganze Gesellschaft und behindert das Suchen nach einer Gesellschaft, die die globalen Herausforderungen – besonders die des Klimas – gemeinsam lösen will. Diese Herausforderungen können nur im Frieden gelöst werden. Diese Botschaft muss weiterverbreitet werden. Globale Herausforderungen verlangen globale Sicherheitspolitik; in Kriegen oder in Konfrontationen werden wir keine der großen Probleme der Menschheit lösen. Die Herausforderung für uns ist, als Friedensbewegte gegen alle Widerstände die Stimme des Friedens, eine klare Anti-Kriegsposition immer wieder und überall auszusprechen. Nur mit einer neuen Politik der gemeinsamen Sicherheit und der Abrüstung werden wir die Kriege und ihre Konsequenzen überwinden können. Das kostet Mut, um wieviel mutiger und couragierter ist das Handeln der Friedensbewegten in der Ukraine und in Russland? Ich muss aber auch sagen, in einigen weiteren Ländern Mittel- und Osteuropas ist viel Mut für Friedensengagement erforderlich. Ihnen gilt unsere Solidarität. Mit ihnen gemeinsam werden wir den Gedanken von Willi Brandt hochhalten: Frieden ist die Ultima Ratio, und Krieg ist die Ultima Irratio.
Vielen Dank für das Gespräch.
Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.