Berlin-„Wokeness“ ist zum Schimpfwort geworden. Wer woke denkt und handelt, gilt inzwischen häufig als Gegner:in der offenen Gesellschaft, als Feind:in der Freiheit oder gar Propagandist:in einer totalitären Ideologie. Ob von einzelnen „Snowflakes“ oder von der dunklen Verschwörung des amerikanischen Kulturmarxismus ins Werk gesetzt: Die tastende Suche nach einem weniger gewaltsamen Umgang mit sich selbst und mit anderen wird als kaum nachvollziehbarer Bruch mit der Wirklichkeit verhöhnt, als unzulässiger Angriff auf den gesunden Menschenverstand.

Am 17./18. Juli 2021 im Blatt:
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Milieus, die sich konservativ, liberal oder gar links nennen, greifen jeden Tweet, jede öffentliche Wortmeldung und jeden Artikel auf, um gegen einen ihnen angeblich feindlich gesinnten Zeitgeist zu wettern. Wenn besonders dick aufgetragen werden soll, behaupten gewitzte Journalist:innen, oft mit Verweis auf einschlägige Texte amerikanischer Provenienz, vor unseren Augen fände eine „Kulturrevolution“ statt. Die Jungen würden den Boden der Aufklärung verlassen und sich wider ihre Eltern in die Arme einer vormodernen, tribalistischen Barbarei begeben.
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Allerdings bleibt es oft nicht bei solch absurden Aussagen: Immer öfter wachsen sich als harmlos verstandene Akte der Meinungsfreiheit zu verletzenden Beschimpfungen oder gar digitalen Tribunalen aus, bis hin zu offenen Vernichtungsfantasien, die den woken Menschen letztlich das Recht absprechen, gesehen oder gehört zu werden. Allzu häufig treffen diese Attacken marginalisierte Personen, die bereits im Alltag von Diskriminierung betroffen sind. Weibliche, schwarze, braune, behinderte, queere oder religiöse Körper werden dezidiert als „andere“ markiert. Ihr Begehren nach Anerkennung wird lautstark zurückgewiesen.
Anti-Wokeness mit Höflichkeit kontern
Diese Ablehnung hat einen befremdlichen Ton angenommen: Ad hominem wird beinahe völlig von Argumenten abgesehen. Eine Kultur der Beleidigung wird von den Vertreter:innen der Anti-Wokeness zum Ausdruck höchster Freiheit verklärt. Ein höflicher Umgang, der den Anderen in seiner Andersheit anerkennt, scheint kaum mehr möglich. Die diskursive Behandlung dieser Fragen wird unfruchtbar. Die Frage nach einer gelingenden Praxis gerät aus dem Blick: Ließe sich ein Umgang, der dem Begriff der Wokeness eine andere Bedeutung verleiht, zurückgewinnen? Können wir anderen Menschen ohne Gewalt begegnen? Wie lässt sich eine höfliche Ethik etablieren, die jenseits eines vulgären Verständnisses von Meinungsfreiheit neue Möglichkeiten des Austauschs eröffnet? Und: Was macht Wokeness als Höflichkeit mit uns, die wir womöglich selbst kaum von Hass betroffen sind? Kann sie helfen, mit uns selbst höflicher umzugehen?
Die von den Wokeness-Kritiker:innen oft als leuchtendes Beispiel angeführte Aufklärung ergab sich nicht einer Apologie unbeschränkter Freiheit. So entwickelte etwa der heute irrtümlich nur noch als apodiktischer Benimmlehrer bekannte Adolph Freiherr von Knigge (1752–1796) eine auf den richtigen Umgang „mit allen Klassen von Menschen“ gerichtete Verhaltenslehre. Wer nicht bereits durch die Natur mit dieser Kunst beschenkt worden sei, solle diese – wie Knigge der Einleitung zu seinem Büchlein von 1788 schreibt – durch das „Studium der Menschen, eine gewisse Geschmeidigkeit, Geselligkeit, Nachgiebigkeit, Duldung“ erwerben.
Gleichzeitig solle diese Art der Herzensbildung aber auch nicht „mit der schändlichen, niedrigen Gefälligkeit des verworfenen Sklaven“ verwechselt werden, „der sich von jedem missbrauchen lässt, sich jedem preisgibt“. Was dies bedeutet, verdeutlicht Knigge zunächst in allgemeinen, fast aphoristischen Bemerkungen, die später von größeren Gruppen wie Eltern, Frauen, Geistlichen oder Gelehrten gewidmeten Abschnitten abgelöst werden. Weder soll die Leser:in dabei die Schwächen ihrer Mitmenschen öffentlich enthüllen, noch diese allzu tadelig, ohne Bewusstsein für die Komplexität gewisser Probleme kritisieren. Hingegen muss sie für Knigge über das Gespräch hinaus Interesse für den anderen zeigen und die Vorstellung aufgeben, „nur sich selber“ leben zu können.
Die Kunst des „esprit de conduite“
Darin wird deutlich, dass Knigge nicht nur die Sorge um den anderen, sondern auch um das Ich im Auge hatte. Neben der notwendigen Sorge für Gesundheit von Körper und Geist zählt hierzu auch der Verzicht auf die – damals noch aufs Geschlecht gemünzte – „Sucht, ein großer Mann zu sein“. Selbst wenn die Leser:in unter „mittelmäßigen Geschöpfen“ leben sollte, darf sie laut Knigge auf eine Größe hoffen, die „von Menschen, Schicksalen und äußerer Schätzung unabhängig“ besteht. Es ist so kaum überraschend, dass der zeitweilige Freimaurer und Illuminatenbruder Knigge diese Kunst des „esprit de conduite“ vor allem den damals noch in Fürstentümer zersplitterten Deutschen vermitteln wollte. Hier herrsche eine so große „Mannigfaltigkeit des Konversationstons, der Erziehungsart, der Religions- und anderer Meinungen“, dass die den engsten Umkreis verlassende Einzelne stets zur Fremden werde. Kurzum: Eine Verhaltenslehre der Höflichkeit kann Frieden stiften.
Knigges Umgangsutopie wirkt verführerisch, kann aber nicht ganz ungebrochen in die Gegenwart überführt werden. Was wir heute Aufklärung nennen, ging mit komplexen Normierungsinstitutionen, -Regimen und -Prozeduren einher, die nur noch vage an die spielerische Herzens- und Tugendbildung des Freiherrn von Knigge erinnern. Höflichkeit verwandelte sich im Lauf des 19. und 20. Jahrhundert zusehends in ein Instrument der Pazifizierung, das nicht zwischen Fremden vermitteln, sondern den anderen gleich machen sollte. Nur wer auf Widerspruch verzichtet und Körper und Geist dem Zugriff der Gesellschaft überlässt, wird gesehen, gehört oder als politisches Subjekt anerkannt.
Energischer gesagt: Höflich ist, wer dem Ideal des weißen, ein wohltemperiertes Christentum pflegenden, heterosexuellen Familienvaters genügt. Was heute unter Wokeness verstanden und mit Bezug auf die – größtenteils irreführenden Label – „Postmoderne“ und „Identitätspolitik“ verhandelt wird, kann wohl am Treffendsten als Aufstand gegen diese normierende Höflichkeit verstanden werden. Weibliche, schwarze, braune, behinderte, queere oder religiöse Körper begehren auf, ergreifen lautstark das Wort. Gleichzeitig drängen diese Revolten aber nicht auf die Etablierung einer neuen Norm. Vielmehr erstreben sie eine neue Ethik, die überraschend stark an Knigges Entwurf vermittelnder Höflichkeit erinnert.
Şeyda Kurts Denken ähnelt dem Adolph Knigges
Diese neue Verhaltenslehre beschreibt die philosophisch geschulte Journalist:in Şeyda Kurt in ihrem kürzlich erschienenen Debüt „Radikale Zärtlichkeit“. Ausgehend von einem tiefen Unbehagen an den tradierten „Wahrheiten der Liebe“, den „patriarchalen, rassistischen und kapitalistischen Logiken“, die sich in die Körper einschreiben und die zwischenmenschlichen Beziehungen strukturieren, eröffnet sich für Kurt die Möglichkeit einer Revision des Status quo. Wo Gewalt war, soll Zärtlichkeit werden. Diese muss als vielfältige Praxis verstanden werden, als „Handeln, das einem anderen Menschen zuspielt, mit ihm spielt, bejahend und produktiv, ohne ihm schaden zu wollen“.
Neue Beziehungs-, Begegnungs-, Sprach- und Arbeitsformen, verbinden sich darin zu einem utopischen Entwurf. Allerdings kann wiederum nur ein Selbst Ausgangspunkt dieser Revolte werden, das sich mit „all den Widersprüchen, Ambiguitäten, der Orientierungslosigkeit, Unfertigkeit, in der ganzen Präsenz der eigenen Körperlichkeit, jenseits jeder Logik und dem Anspruch auf Linearität“ anfreundet. Den häufigen Vorwurf einer neuen Innerlichkeit der woken Linken kontert die Journalist:in mit einem Hinweis auf die Übersetzung ihrer Verhaltenslehre ins Außen. Nur durch den „gleichberechtigten Zugang zu Ressourcen des Wissens für alle, genauso wie zu Ressourcen der Gesundheit, des Wohnens“, also durch eine auf Zärtlichkeit beruhende Wirtschaftsordnung, könne sich auf lange Sicht ein anderer Umgang herausbilden.
So gesehen ist Wokeness kein Aufstand gegen die Höflichkeit, sondern das Insistieren auf ihrer spielerischen Natur und transformierenden Wirkung. Wenn wir Menschen höflich nach bevorzugten Pronomen fragen, auf Essens- oder Getränkewünsche achten, vielleicht nicht von vornherein annehmen, dass auch die Ehefrau zum betrieblichen Sommerfest erscheinen wird, dann knüpfen wir dadurch ein zärtliches Band, das bereits in unserer Alltagspraxis ein Stück Utopie lebbar macht. Der andere, mit dem wir uns auf diese Weise verbinden, kann und soll anders bleiben – nur eben angstlos. Höflichkeit in diesem Sinn verstanden lenkt den Blick zurück auf die Einzelne, die sich entschließt, höflich zu sein.
Wenn sich diese Formen ethischer Selbstbildung intensivieren und darüber hinaus von politischen Maßnahmen begleitet werden, die Höflichkeit fördern, erwächst aus ihnen womöglich ein Beziehungsverständnis, das den normierenden Zug der Aufklärung überwindet. Sie spaltet damit nicht, sondern hinterfragt nur althergebrachte Vorstellungen von Gesellschaft. Nicht die Familie, nicht das Volk, nicht Nation oder race, sondern die durch Höflichkeit gewonnene Gemeinschaft von Freunden würde so zum kommenden Modell von Sozialität. Wokeness wäre damit nicht der vielbeschworene Regress, sondern der Versuch einer kritischen Auseinandersetzung mit dem ambivalenten Erbe der Aufklärung – eine Aufklärung, die mannigfaltigen Körpern nicht genug Aufmerksamkeit schenkt, sie mit Gewalt traktiert und sich von einer zärtlichen Gemeinschaft entfernt hat.
Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.