Schnappis Parole: „Impfen, impfen, impfen“
Querdenken und rechte Verschwörungsideologien beherrschen den Corona-Diskurs. Doch Gegenproteste erobern sich langsam die Straße zurück. Mit Erfolg?

Berlin-Ein riesiges Echsenauge überwacht das Reichstagsufer. Der lange, schwarze Schlitz sucht nach schwurbelnden Corona-Leugnerinnen und -Leugnern. Ein Mittwochnachmittag im Januar, es regnet leicht. Vor dem Auge stehen rund zehn Menschen. Zwei haben Echsenhüte auf dem Kopf, zwei andere halten Fahnen mit einem abgewandelten Antifa-Logo in die Höhe: schwarzer Kreis, mittig zwei Echsen, eine lila, eine schwarz, auf grünem Hintergrund. Die „Antiverschwurbelte Aktion“ hat ihr Revier markiert.
Aus Lautsprechern vor dem Echsenauge tönt eine alte Rede Angela Merkels als Remix: „Die Devise lautet impfen, impfen, impfen – so schnell wie möglich“, der Bass donnert über die Straße. „Impfen, impfen, impfen – fünf Millionen Dosen.“ Im Techno-Beat gibt die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin die Pandemie-Parole vor: Die Bevölkerung soll sich durchimpfen lassen. Menschen mit Echsenhüten und dunklen „FCKAFD“-Pullovern bewegen Köpfe im Takt. Fast ein Dutzend Polizeikräfte steht vor und neben ihnen. Ohne Regung. Nur die Protestierenden der Antiverschwurbelten Aktion tanzen schüchtern zum Beat.

Das Echsenauge – eigentlich eine etwa sechs Quadratmeter große Flagge – wurde von Mitgliedern der Antiverschwurbelten Aktion am Außengeländer des Ufers festgebunden, es soll zeigen: Hier ist schwurbelfreie Zone. Hier leugnet niemand das Virus. Hier ist eine Impfung immer die bessere Option.
Die Echsen sind eine Persiflage. Besonders in den USA ist der Glauben an Reptiloide eine weitverbreitete, mit antisemitischen Vorurteilen durchzogene Verschwörungstheorie. Alien-Echsen in Menschenkostümen, Formwandelnde, sollen uns demnach regieren. Angela Merkel, klar, soll zu dieser verkleideten Elite gehören. Der französische Präsident Emmanuel Macron auch. Beide arbeiten, so der Verschwörungsglaube, an einer neuen Weltordnung.
Wenige Hundert Meter entfernt wird an diesem 26. Januar im Bundestag erstmals über eine mögliche Impfpflicht gegen Covid-19 debattiert.
Die Stadtgesellschaft bäumt sich auf
In Hörweite von Merkels Techno-Rede, in der Nähe der Marshallbrücke und am ARD-Hauptstadtstudio stehen diejenigen, die dagegen sind: die impfkritische Szene, ein Mischung aus esoterischen Alt-Hippies, verschwörungsideologischen Querdenkerinnen, Rechtsextremen, Familien mit Kindern und Hunden, Shoa-Leugnerinnen, Nazis. Alle haben sie seit Tagen in den sozialen Medien zum großen Protest im Regierungsviertel mobilisiert. Die uniformierte Exekutive steht in Mitte mit 1600 Beamtinnen und Beamten bereit, der Reichstag wurde weiträumig abgesperrt, Wasserwerfer stehen bereit. Die Berliner Polizei rechnet im Vorfeld mit bis zu 10.000 Protestierenden, einen Tag später gibt sie bekannt, dass es nur 1500 geworden sind. Mehr Polizei als Demonstrierende also. Einige halten Plakate in die Höhe: „Panik-Macher in Politik + Medien“ oder „Nein zur Impfpflicht“.
Seit Monaten dominieren die sogenannten Corona-Proteste Straße und Medien, zu Pandemiebeginn hießen sie noch verharmlosend „Hygienedemos“, heute „Spaziergänge“. Oft sind sie unangemeldet. Teilnehmer verbreiten Desinformation und Ideologien. Doch immer mehr Gegenproteste stellen sich dieser immer aggressiveren Szene entgegen. Anwohnerinitiativen, die ihre Kieze zurückerobern wollen. Linke Initiativen, die sich gegen die rechte Vereinnahmung wehren. Parteiübergreifende Bündnisse, die der zunehmenden Wissenschaftsfeindlichkeit entgegenwirken wollen. Die Stadtgesellschaft bäumt sich auf, zeigt sich nun auch auf der Straße. Oft zu einem hohen Preis. Der öffentliche Kampf gegen Corona-Leugnung und Shoa-Relativierungen ist ein einschüchternder. Engagierte berichten immer wieder von Bedrohungen aus der Szene. Trotzdem machen sie weiter.

Monica Felgendreher ist an diesem nasskalten Mittwoch unter den Protestierenden an der Marshallbrücke, sie ist eine der prominentesten Figuren der Berliner Querdenken-Szene. Einen Tag vor dem Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust zeigt sie sich mit einem Schild, auf dem „Stoppt diesen Genozid“ steht. Sie versteht sich als Widerstandskämpferin gegen eine angebliche Corona-Diktatur, vor Journalistinnen und Journalisten vergleicht sie die aktuellen Infektionsschutzmaßnahmen mit dem Holocaust, wittert Gleichschaltung und Medienpropaganda, Faschismus. Als sie ihre Shoa-Relativierungen durch ein Mikrofon in einem Redebeitrag wiederholt, wird sie von der Polizei abgeführt. Nicht sie, sondern die Einsatzkräfte werden durch die Umstehenden ausgebuht. Die Masse fühlt sich in ihrer Theorie bestätigt.
Antiverschwurbelte Aktion: Protest mit Humor
Vor dem Echsenauge steht ein Mann, roter Anorak, dunkelgrüne Hose, er nennt sich „Schnappi, das Reptil“. Neben ihm ein Lastenrad der Antiverschwurbelten Aktion, darauf eine Lautsprecherbox, Schnappi hält das Mikro geübt in der Hand, gibt den Takt vor. Der 38-jährige Berliner organisiert seit etwa zwei Jahren die Gegenproteste. Heute hat er nur den Echsenhut auf, die Brille ist durch die Maske immer leicht beschlagen. Mit dem Echsenhut wirkt Schnappi noch länger, als er mit seinen etwa 1,90 Meter ohnehin schon ist. Die kleine Gruppe ist dunkel gekleidet, neben Schnappi trägt nur ein anderer Gegenprotestant eine Echsenmütze.
In Redepausen spielt er Lieder vom Band oder leistet Orientierungshilfe. „Zum Bundestag geht’s da lang“, sagt Schnappi durchs Mikrofon zu vorbeilaufenden Impfgegnern und Impfgegnerinnen und weist in die richtige Richtung. „Fahrt doch mal ans Meer oder in die Berge, nicht immer nur nach Berlin. Erholt euch mal.“ Leises Kichern beim Gegenprotest, eisige Mienen bei der Gruppe gegenüber.
Anfangs protestierte Schnappi am Rosa-Luxemburg-Platz, es war die Zeit der „Hygienedemos“. Heute treffen sich scheinbar zufällig sogenannte Maßnahmenkritiker und -kritikerinnen vor Rathäusern, laufen mit Kerzen durch Kieze, nennen es „Spaziergänge“ und sind teilweise völlig ungestört von der Polizei. Die Antiverschwurbelte Aktion ist jetzt ein deutschlandweites, auch ein linkes Bündnis. Aber kein reines Antifa-Bündnis, wie die Flagge vermuten lässt.
Kleiner Gegenprotest: Wo ist die linke Szene?
Die impfkritische und verschwörungsideologische Szene mobilisiert laut, zu Zehntausenden machen sie auf sich aufmerksam. Der Gegenprotest bleibt, auch wenn er wächst, zahlenmäßig unterlegen, die schweigende Mehrheit zu Hause. Bei Räumungen der Liebigstraße oder der Köpi trieb es die linke Szene auch zu Pandemiezeiten zu Tausenden auf die Straße, zu Protesten gegen Aufmärsche mit Covid-19-Bezug findet sie sich aber kaum zusammen. „Die Linke ist zutiefst zerstritten zwischen Antifa und eher Bürgerlichen. Einige verharmlosen die da drüben als Spinnis, andere dämonisieren sie als Nazis“, sagt der Mann, der sich Schnappi nennt, „gerade montags brauchen wir aber viel mehr Solidarität.“
Schnappi scrollt durch seine Playlist, als eine Gruppe sächsischer Bereitschaftspolizisten vorbeieilt, hinter dem wachsamen Echsenauge zum Stehen kommt. Am ARD-Studio macht sich die nächste Gruppe auf den Weg, überwacht das Reichstagsufer auf der anderen Seite. Einige Polizisten werden heute noch ein paar Straßen weiter, Unter den Linden, als „Volksverräter“ angeschrien werden. Von denselben Menschen, die seit einiger Zeit montags wieder „Wir sind das Volk“ rufen.
Das Volk, wer ist das heute überhaupt noch? Sind es Menschen wie Schnappi, die Proteste anmelden und die Zivilgesellschaft auf die Straße holen? Oder diejenigen, die das Erbe der Friedlichen Revolution kapern wollen, eine „Corona-Diktatur“ erfinden? Wahrscheinlich gehören beide Gruppen dazu.

Die „Wir sind das Volk“-Rufe seien ein Zeichen für das große antidemokratische Potenzial dieser Proteste, sagt Felix Müller von der Mobilen Beratung Rechtsextremismus (MBR). Neben externer Beratung für Vereine bietet die MBR auch Hintergrundinformation zu den Themen Rechtsextremismus und Antisemitismus an. Am Telefon erklärt Müller das Konfliktpotenzial der aktuellen Aufmärsche. „Man muss eben genau gucken, wer ist da vor Ort?“ Es werde von einer sogenannten Corona-Diktatur gesprochen und dass man sich in einem nicht-demokratischen Zustand befinde. „Diese Wahrnehmung wird dann mit der Losung ‚Friede, Freiheit, Selbstbestimmung‘ beantwortet, aber eben auch mit ‚Widerstand‘ und ‚Wir sind das Volk‘.“ Auf der Basis dieser Deutung riefen die Protestierenden dann dazu auf, als „selbstbestimmtes Volk“ auf die Straße zu gehen: „Sie wollen sich gegen eine vermeintlich korrumpierte Elite und andere Feindbilder zur Wehr zu setzen.“ Zum Feindbild gehört aktuell besonders Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, auf vergangenen Demonstrationen konnte man ihn auf Schildern immer wieder in Häftlingskleidung sehen. Und auch: die Medien.
Kleinere Initiativen vernetzen sich untereinander
Gegen 14 Uhr läuft eine große Gruppe Demonstrierender an der Antiverschwurbelten Aktion vorbei, einige tragen Lichterketten um den Hals, wenige Deutschlandfahnen. Plötzlich wummert Jan Böhmermann aus Schnappis Box: „Achtung, muck nicht, sonst hol’ ich Polizei“. Fast fünf Minuten rappt der Moderator und „Systemling“ seinen bekannten Song „Ich hab Polizei“ und nun ja, auch die Antiverschwurbelte Aktion hat sie in diesem Augenblick. Die Polizei, die sie mit dem Lied der Öffentlich-Rechtlichen-„Lügenpresse“ heute vor den Impfgegnerinnen und Schwurblern schützen soll.
Die Impfdebatte im Bundestag ist noch in vollem Gange, doch vor dem ARD-Studio wird es ruhiger, auch die Antiverschwurbelte Aktion verlässt das Reichstagsufer. Das Echsenauge wird abgehängt, zusammengefaltet, sicher verstaut. Mit Polizeibegleitung geht es zum Brandenburger Tor, zu den Kolleginnen und Kollegen des Geradedenken-Kollektivs.

Am Morgen der Debatte suchten hier noch Teilnehmer der impfkritischen und verschwörungsideologischen Demonstration Anschluss, auch nach dem richtigen Weg. „Ey, sag dem Kollegen mal, dass er die Flagge falsch rum hält“, wurde da ein Mann gemaßregelt, der noch schnell ein Erinnerungsfoto vor dem Brandenburger Tor machen will. Stolz hält er das wehende Nationalsymbol über die Schulter: gold-rot-schwarz. Falsch beflaggt? Oder: In dieser Ordnung wohl eher ein Erkennungszeichen innerhalb der Reichsbürgerszene. Auch die mischen sich unter scheinbare Maßnahmenkritiker.
Am frühen Nachmittag des 26. Januar gehört der Platz am Brandenburger Tor aber wieder dem Gegenprotest. Max, einer der Organisatoren des Geradedenken-Bündnisses, ist ähnlich wie Schnappi seit fast zwei Jahren dabei. Seit kurzem vernetzt er mit einer kleineren Gruppe als „Spazierstopp“ auch größere Initiativen miteinander. Über die sozialen Medien wollen sie gemeinsam auf Aktionen und Gegenproteste hinweisen, ihre Reichweite so vergrößern. Das Motto: lokal, dezentral, überall. Insbesondere montags wollen sie sich den vielerorts oft unangemeldeten Versammlungen vor Rathäusern entgegenstellen.

Als Geradedenken haben sie ihre erste Demo im Herbst 2020 organisiert, hier am Pariser Platz. Gegen die „Honk for Hope“-Bewegung, ursprünglich eine Bewegung der Busunternehmen gegen die Pandemie-Einschränkungen: „Auch bei denen waren wieder viele Gruppen aus dem rechtsextremen Milieu anwesend“, erzählt Max. Im folgenden Frühjahr folgte dann der Anschluss an ein anderes Geradedenken-Projekt, „damit wollten wir dem Abdriften der Rave- und Partyszene etwas entgegensetzen.“ Zuvor gab es Gruppen, die wollten Partys feiern, aber die Maskenregeln ignorieren. Dadurch drifteten einige in die rechte Szene ab, koordinierten verbotene Aufmärsche. Der Corona-Kritiker Michael Bründel, besser als „Captain Future“ bekannt, ist so ein Beispiel. Der DJ organisiert auch unter dem Motto „Tanzt euch frei“ die Freedom Parade.
Als die pandemiekonforme Partysaison 2021 vorbei war und mehr und mehr unangemeldete Versammlungen durch die Stadt zogen, ging es für das Geradedenken-Kollektiv dann zurück zum klassischen Gegenprotest: Sie melden Kundgebungen an, organisieren Redebeiträge. „Wir wollen die Öffentlichkeit darüber informieren, was da passiert und dass das eben nicht okay ist, sich da anzuschließen.“ Ein Zeichen, dass die Zivilgesellschaft sich auch in pandemischen Zeiten noch aufbäumen kann.
Das Kollektiv erkämpft sich so langsam die Rathäuser zurück, doch Gegenproteste sind traditionell eher schlechter besucht. Viele schrecke es ab, in Pandemiezeiten auf Demos zu gehen. Max und Geradedenken wollen dennoch auch Aufmerksamkeit schaffen. „Wir müssen klar benennen, wer da mitläuft, was für ein Gedankengut dahinter steckt, wer davon profitiert.“ Montags zeigt sich Geradendenken und das Spazierstopp-Bündnis auch regelmäßig auf dem Alexanderplatz. Start der größten „Montagsdemo“, in letzter Zeit angeführt von Eric Graziani.
„Lügenpresse“-Rufe vor dem ZDF-Hauptstadtstudio
Graziani zeigt sich auch am Tag der Bundestagsdebatte in Mitte. Durch seine zurückgegelten Haare sticht er aus der Menge heraus. Um den Arm hat er eine selbstgebastelte Binde. Handschriftlich mit schwarzen Filzstift geschrieben steht dort: „Presse“. Graziani steht vor dem ARD-Hauptstadtstudio, filmt viel mit seiner Handykamera auf einem Selfiestick.
Seine Hauptaufgabe ist seit einigen Wochen aber die montägliche Lauf-Demo in Mitte: Hier marschiert er mit durchschnittlich 500 bis 1000 Menschen von der Weltzeituhr zum ZDF-Büro. Seine Demo wird von einem Transparent mit dem Wort „Fressefreiheit“ angeführt. Als Redner mit Mikrofon zettelt Graziani dann oft „Lügenpresse“-Rufe an und sagt, dass diese Leute, er meint Journalistinnen und Journalisten, schon ihre „gerechte Strafe kriegen“ würden. Auch deshalb werde er „erbitterten Widerstand“ leisten. Oft ist dann tosender Applaus aus der Menge vor ihm zu hören. Immer wieder dementiert Graziani hier auch, dass er ein Rechter sei: „Ich bin nur ein Patriot“, sagt er.
Dabei zeigte er sich in der Vergangenheit gern mit umgedrehter Deutschlandflagge auf der Jacke. Aktuell ist er Teil der „Patriotic Opposition Europe“ (Patriotischer Widerstand Europas), einer rechtsextremistischen Splittergruppe, die laut Verfassungsschutz die Proteste mit Covid-19-Bezug unter anderem dazu nutzen will, einen antidemokratischen Systemwechsel herbeizuführen. Das ist wohl ein bisschen mehr als Patriotismus.

Der Schlachtruf der montäglichen Lauf-Demo um Graziani lautet „Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung“. Als sie an der Glinkastraße am Gegenprotest vorbeilaufen, bekommen sie Gegenwind: Hier stehen auch Vertreterinnen und Vertreter vom Geradedenken-Kollektiv und die Antiverschwurbelte Aktion reckt ihre Echsen-Fahnen in die Luft. Denen rufen Granzianis Demonstrierende entgegen: „Nazis raus!“
„Das tut uns in der Seele weh“, sagt Max von Geradedenken später. Wie absurd sind diese Proteste mittlerweile, wenn Demonstrierende, die Minuten vorher über die „Lügenpresse“ und „Systemlinge“ fantasierten, plötzlich „Nazis raus“ brüllen? „Wenn wir ‚Alerta, Alerta, Antifascista‘ anstimmen, schallt es von der anderen Seite ‚Nazis raus!‘ zurück.“ Es schmerze ihn, von Menschen, die sich vor der Pandemie noch nie politisch engagiert haben, so etwas zu hören. „Das bringt einen schon zum Verzweifeln.“. Doch wer ist diese Masse, die dort neben Eric Graziani mitmarschiert?
„Initiative zu sogenannten Spaziergängen kommt aus der extremen Rechten“
Felix Müller von der Mobilen Beratung Rechtsextremismus sieht in den angemeldeten und unangemeldeten Aufmärschen gewissermaßen auch einen Querschnitt der Gesellschaft: „Wir raten davon ab, den Fokus vor allem auf die vermeintliche Unterwanderung durch Rechtsextreme zu legen.“ Seit Jahren beobachte die MBR in Einstellungsstudien ein antidemokratisches Sockelpotenzial inmitten der Gesellschaft. Heißt konkret: „Offensichtlich haben weite Teile der häufig bezeichneten und scheinbar unbescholtenen gesellschaftlichen Mitte kaum Probleme damit, dorthin zu gehen –dorthin, wo Verschwörungsmythen, Rechtsextremismus, Antisemitismus und andere antidemokratische Inhalte Bestandteil sind.“

Dem widerspricht René Paulokat vom „Aufstehen gegen Rassismus“-Bündnis: „Die Initiative zu den sogenannten Montagsspaziergängen kommt ganz klar aus der extremen Rechten“, sagt er der Berliner Zeitung am Wochenende am Telefon. Er meint vor allem die Kontinuität der Pegida-Märsche 2014/15. Es seien teilweise dieselben Leute, die das jetzt organisieren. Bei der Umsetzung gebe es regionale Unterschiede. Auch in Berlin. „In Köpenick oder Hellersdorf ist der III. Weg super präsent, beispielsweise mit Flugblättern, die an Klarheit nichts zu wünschen offen lassen.“ Die Partei stehe praktisch in der Tradition der NSDAP. „In Kreuzberg setzt die Aufrufe dann eher so ein Esoterikerspektrum um.“
Das Argument, auf diesen unangemeldeten Versammlungen oder Aufmärschen mit Covid-19-Bezug gebe es keine Rechten, zählt für Paulokat nicht. „Die Rechten tun genau das, was sie angekündigt haben: Konstruktiv mitschwimmen, sich nützlich machen, ohne ihre eigene Agenda schon offensiv auf die Tagesordnung zu setzen.“ Unterschwellig könnten sie so den Mythos vom Great Reset oder vom Bevölkerungsaustausch testen und in Gespräche einarbeiten.
Initiative Gethsemanekiez: „Diese Vergleiche finden wir unerträglich“
In eben diesen Kreisen kannten „wir uns überhaupt nicht aus“, sagt Wiebke von der Anwohnerinitiative Gethsemanekiez. Aus Sicherheitsgründen möchte sie nur ihren Vornamen nennen. Das ist nicht ungewöhnlich für Menschen, die sich zurzeit gegen die Impfkritik, Verschwörungsideologie oder rechte Proteste stellen. Sie erzählen auch, dass sie sich von Vereinen wie der Mobilen Beratung Rechtsextremismus beraten lassen. Oder auch, dass sie auf Veranstaltungen von rechten Fotografen gefilmt werden, dass ihre Bilder im Netz landen, später ihre Namen und Adressen. Einer sagt, dass er schon umziehen musste.
Normalerweise steht Wiebke montags an der Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg, in den Winterferien nimmt auch sie sich eine Pause vom zivilen Gegenprotest. Seit fast zwei Monaten organisiert sie mit anderen Bewohnerinnen und Bewohnern des Kiezes einen überparteilichen Gegenprotest vor dem Symbol der DDR-Friedensbewegung.

„Wir wollten halt nicht, dass vor der Kirche so ein Quatsch passiert, dass hier Menschen stehen, die so tun, als wären wir in einer ähnlichen Situation wie '89.“ Diese Vergleiche, dieses Diktaturgerede, finde sie alles unerträglich. „Jetzt stehen wir hier seit mittlerweile sieben Wochen“, sagt Wiebke, „und nehmen diesen Raum mit deutlicher Mehrheit ein.“ Am letzten Januarmontag finden sich nur zwei Gegen-Gegenprotestierende auf der gegenüberliegenden Seite der Kirche wieder. Der eine trägt ein Herz und eine Lichterkette, der andere beschwert sich lautstark über die Polizeiabsperrungen, er wolle nur zur Kirche. Beide werden zur Schönhauser Allee geschickt, anschließend ist es ruhig. Der Platz vor der Kirche ist voller Menschen. Demokratischer Gegenprotest zeigt, zumindest in Prenzlauer Berg, Wirkung.
Die Antiverschwurbelte Aktion ist auch zur Gethsemanekirche gekommen. Angemeldet hat sie einen „reptiloiden Fahrradkorso gegen rechtsoffene Spaziergänge“. Beim Start flattert die Echsenfahne im Wind, aus der Box dröhnt es: „Die Gedanken sind quer und frei von Beweisen.“ Noch so ein Ohrwurm.
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