Thilo Mischke: „Die Bezirkswunderlinge verschwinden aus Berlin“

Unser Kolumnist Thilo Mischke fühlt sich an seine Kindheit erinnert. Beim Blick zurück wird ihm klar, dass die kuriosen Kiezgestalten die Stadt verlassen.

Der Journalist und Moderator Thilo Mischke.
Der Journalist und Moderator Thilo Mischke.imago

Berlin-Es ist Juni 1996, ich bin 15 Jahre alt und es ist Sommer, als es anfängt zu schneien. Die Frankfurter Allee weiß, eine Straße, die eher zum hässlichen Teil von Friedrichshain gehört, ist plötzlich ansehnlich.

Voigt bis Pettenkofer, eine Region im Ring, die sich schwer gentrifizieren lässt. Noch bis vor kurzem lebten dort die Nordkieznazis, die am Sonnabend in den Prenzlauer Berg fuhren, um bei einem BFC-Dynamo-Spiel gegen Mülleimer zu treten. Oder: um mit der U2 besoffen nach Pankow zu fahren und dort Passanten zu schubsen.

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Feine Gespinste, die sich in den Pfützen verfangen, die hilflos in der Rinde von Bäumen hängen, Menschen niesen und schieben mit ihren Füßen die gewichtslosen Schneehaufen beiseite. Es schneit Flocken, die nicht schmelzen.

Der Zittermax von Berlin

Ich helfe meiner Mutter in der Franz-Mehring-Buchhandlung. Zu diesem Zeitpunkt ist sie eine vielrauchende Buchhändlerin mit legendärer Berliner Laune. Für fünf Mark die Stunde bessere ich mein Taschengeld auf, reinige die unteren Regalreihen mit einem feuchten Lappen. Lerne, mit fremden Menschen zu sprechen und ihnen Bücher zu verkaufen, die ich nicht gelesen habe, aber als absoluten Geheimtipp empfinde. Es ist ungefähr die Zeit, in der auch ich mit dem Rauchen anfange. Vorbildfunktion und so. Ich stehe also dort am Fenster und beobachte einen alten Mann im Sommerschnee.

Er ist mir nicht unbekannt. Er ist wie der nackte Jesus, auch ein Bekannter Friedrichshainer, der im Winter blaugefroren am Frankfurter Tor steht und bettelt, im Sommer mit schwarzen Fußsohlen Zigaretten aufliest, ein Bezirkswunderling. Zittermax wird er genannt, ich bin mir aber sicher, er heißt nicht wirklich so. Ich beobachte ihn, wie er sich umständlich nach vorne beugt und den Schnee aufhebt, ihn in seinen Händen hält, die so zittern, dass er ihn sich kaum ansehen kann.

Jedes Jahr muss ich an Zittermax denken

Manchmal kommt Zittermax in die Buchhandlung, kauft eine Postkarte und geht wieder. An diesem Tag schüttele ich ihm die Hand. Als ich seine erstaunlich weichen Finger festhalte, blickt mich meine Mutter erschrocken an.

„Du musst dir unbedingt die Hände waschen“, sagt sie. Und erklärt mir, dass Zittermax oft vor die Buchhandlung pinkele. Und eben dabei sehr stark zittert, was, nun ja, zu einem recht ungenauen Strahl führt. Und feuchten Händen.

Jedes Jahr, wenn der Pappelschnee kommt, muss ich an Zittermax denken und diese Geschichte.

Die kuriosen Gestalten verschwinden

Irgendwann war er weg. „Gestorben“, sagte meine Mutter. Und es hat mich traurig gemacht. Jahrelang haben wir uns gegrüßt, als würden wir uns kennen, dabei habe ich ihm nur die Hand geschüttelt. „Früher“, sagte meine Mutter immer, wenn Zittermax im Laden war, „hat er sehr anspruchsvolle Bücher gekauft.“

Generell scheint es, dass die bekloppten, die abgehängten, die verrückten Berliner verschwinden. Es gab so viele von ihnen. In Prenzlauer Berg am Kollwitzplatz die Kartoffelhexe, die zugezogene Kinder anbrüllte und bedrohte, bis sie von der Polizei eingesammelt und irgendwo hinter der Stadtgrenze wieder ausgesetzt wurde. Die Hexe, nicht die Kinder.

Der ultraaggressive Fahrkartenkontrolleur in der U2, der keine Lizenz zum Kontrollieren hatte, aber, wie meine Mutter sagen würde, „einen Jagdschein“. Er war wahnsinnig. Dieser Mann, der sich von den müden U-Bahn-Gästen ein Kreuz in sein kleines Notizbuch zeichnen ließ, verschwand irgendwann. Die Frau am Kudamm, die immer schrie: „Ficken macht frei“, der Typ in der U5, der jede Station ankündigte und alle Umsteigemöglichkeiten ansagte.

Alle weg.

Diese Stadt darf und soll sich verändern

Es ist nicht so, als würde ich diese Menschen besonders mögen oder eine Clemens-Meyer-artige Verbundenheit mit ihnen fühlen. Das ist ja nicht Leipzig hier, sondern Berlin. Mir fällt nur auf: Sie sind nicht mehr da. Und ich frage mich: Haben wir die Menschen in dieser Stadt, die niemand braucht, die niemand vermisst, die niemand liebt, ebenso weggentrifiziert? So wie Hinterhöfe mit Asbestmüllhäuschen, die Schusslöcher an den Fassaden in Prenzlauer Berg oder die Abenteuerspielplätze in Friedrichshain? Alles weg.

Ich gehöre zu den Berlinern, die sich nicht daran stören, dass sich die Stadt verändert. Das hat sie immer getan. Erst die Brände, dann die Kriege und irgendwann die Immobilienhaie, Berlin ist niemals ein Istzustand, sondern immer ein großes Verschwinden. Ob es nun die Bezirke sind oder die Anwohner, die Gardinenläden oder der Holzhandel, Geschäfte, die wir toll finden, in denen wir aber trotzdem nicht einkaufen.

Diese Stadt darf und soll sich verändern, ich wünsche es mir von ihr. Es macht ihren Reiz aus. Auch meiner Mutter gefällt es. „Alle paar Jahre haben wir einen neuen Kundenstamm“, sagt sie als Geschäftsfrau und Berlinerin. Während sie früher Rätselblöcke verkaufte, kommen heute die Studenten, die den Nordkiez bezogen haben und jetzt Bücher von Pierre Bourdieu kaufen.

Nur der Pappelschnee, der soll bleiben, er erinnert mich daran, dass Sommer ist. Und dass es mal Menschen wie Zittermax in dieser Stadt gab.

Dies ist der neueste Teil der Kolumnenreihe „Herzberg & Mischke“. Die Schriftstellerin Ruth Herzberg und der Journalist Thilo Mischke nähern sich im Wechsel in intimen Texten ihren Erlebnissen in (und jenseits von) Berlin.

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.