Vergewaltigung als Teil einer Wette: „Erzähle am besten niemandem von uns“

Die Berlinerin Sophie weiß nicht, warum er sie ausgesucht hat: Noch heute kämpft sie mit den psychischen Folgen der Vergewaltigung. Eine Begegnung.

Eine Vergewaltigung hinterlässt Spuren, manchmal ein Leben lang.
Eine Vergewaltigung hinterlässt Spuren, manchmal ein Leben lang.Unsplash

Wenn Sophie das Lied „Grenade“ von Bruno Mars hört, wird sie zurückgeworfen – zurück in einen Tag, der ihr Leben seither bestimmt. Was sie dann fühlt, ist blanke Panik: Ihr Atem wird schneller, sie zittert, manchmal beginnt sie zu weinen und kann nicht wieder aufhören. Besonders schlimm ist es, wenn die Attacken aus dem Nichts kommen, sagt sie, unvorbereitet. Was dann hilft: In eine Tüte atmen. Ruhe.

Easy come, easy go, that's just how you live, oh
Take, take, take it all, but you never give
Should have known you was trouble from the first kiss
Had your eyes wide open
Why were they open? 

Einen echten Nervenzusammenbruch hatte Sophie länger nicht mehr, sagt sie. Sie sitzt im Außenbereich ihres Lieblingsrestaurants, einem indischen Gourmettempel außerhalb des S-Bahnrings, tief im Berliner Osten. Eine steinerne Shiva-Büste thront am Treppenaufgang, grüner Messeteppich bedeckt den Boden. Von drinnen zieht der Duft von Curry und Basmatireis nach draußen. Hier fühle sie sich sicher, sagt sie. Ein Kellner kommt, grinst und hebt zum Gruß die Hand. Sie lächelt. „Einen kleinen Salat ohne Salat“, sagt sie, „nur mit Gurken und Tomaten.“ Sie mag es so am liebsten.

Sophie, die eigentlich anders heißt, leidet an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Als sie 14 Jahre alt war, hat ein 17-Jähriger sie vergewaltigt. Lange hatte sie das verdrängt, bis es nicht mehr ging. Heute ist sie 26 Jahre alt, ein Schatten begleitet sie, überall hin.

Jede fünfte bis sechste erwachsene Frau in Deutschland erlebt sexualisierte Gewalt

Die Polizeiliche Kriminalstatistik Berlin verzeichnet jährlich rund 5000 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, neben Vergewaltigungen zählen dazu Nötigung oder Zuhälterei, auch die Erregung öffentlichen Ärgernisses. Pro Tag werden durchschnittlich ein bis zwei Frauen in Berlin vergewaltigt. Durch eine Dunkelfeldforschung der Polizei im Jahr 2021 wurde deutlich, dass etwa jede fünfte bis sechste erwachsene Frau in Deutschland sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend erlebt hat.

Wenn Sophie von ihren Erlebnissen vor zwölf Jahren berichtet, spricht sie mit lauter und fester Stimme. In Hörweite, nur zwei Tische entfernt, nimmt ein älteres Pärchen Platz. Sophie redet selbstbewusst weiter.

Das war nicht immer so.

Sophie ist noch ein Kind, als sie merkt, dass sie den Spott anderer auf sich zieht. Im Kindergarten findet sie schwer Anschluss. Sie gilt als die Zurückhaltende, die Schüchterne. In der Schulzeit geriet ihr Gefühlsleben noch mehr in Schieflage. „Ich war Teil der Außenseitergruppe, galt als verklemmt, langweilig und verschlossen“, erzählt sie. Mitschüler verbreiteten das Gerücht, sie habe für ihre guten Noten mit einem Lehrer geschlafen.

All das belastete Sophie sehr. Sie war unglücklich, zudem unfähig, ihrem Innenleben Ausdruck zu verleihen. Als Neuntklässlerin fing sie an, sich zu verletzen – sie glaubte, die Rasierklinge könne ihr ein Stück Selbstbestimmung zurückgeben. „Ich habe diesen seelischen Schmerz, den ich weder beschreiben noch kontrollieren konnte, überspielt mit einem Schmerz, den ich kontrollieren konnte.“

Einmal habe sie sich aus Versehen durch das Unterhautfettgewebe ihres Oberschenkels geschnitten, bis auf den Muskel. Mit einer Skalpellklinge, die sie von ihrer Praktikumsstelle in einer Tierarztpraxis geklaut hatte. „Die sind so dermaßen scharf. Da braucht man nicht viel Druck“, sagt sie. Sie lächelt und spießt eine mit Joghurtdressing beträufelte Tomate auf.

Bis heute weiß sie nicht, warum er sie ausgewählt hatte

2010 wurde alles anders für sie. Sie hatte gerade ihren ersten Freund. „Ich war so richtig verliebt“, sagt sie. Die beiden kannten sich vom Sport. Sie war 14. Er 17. Bis heute weiß sie nicht, warum er sie ausgewählt hatte. Aber sie war froh, endlich dazugehören zu können.

Hatte er sie manipuliert? Hatte er wegen seines sportlichen Aussehens geglaubt, er kann jede haben? Und: Warum musste sie die Beziehung geheim halten? „Erzähle am besten niemandem von uns“, hat er gesagt. „Ich möchte nicht, dass irgendwer uns wegen unseres Altersunterschieds reinredet.“

Vergewaltigung. Das ist in erster Linie ein juristischer Begriff, der eine Form sexualisierter Gewalt beschreibt. Einem Menschen wird der freie Wille genommen. Er verliert seine Selbstbestimmung. Und nicht selten dabei auch sich. Es geht um Unterdrückung. Und um Macht. Ex ist der gleiche Impuls, der Männer auf der ganzen Welt das Gefühl gibt, sie dürfen ihre Macht gegenüber anderen Menschen ausüben.

Das Bild vom skrupellosen Triebtäter, der einem willkürlichen Opfer im spärlich beleuchten Parkhaus auflauert, ist dabei jedoch in nur wenigen Fällen zutreffend. Oft ist es ein Verwandter, ein Freund, der Partner oder das Date. Es passiert drinnen, in einer Wohnung, nicht selten sogar der eigenen. Die Struktur heißt Patriarchat, das Symptom toxische Männlichkeit.

Sie war mit ihm knapp zehn Monate zusammen. Bis dahin war er sehr geduldig mit ihr gewesen, war viel auf sie eingegangen. Anders als sie hatte er zu diesem Zeitpunkt schon Sex. Sie wusste, dass ihn das belastete und konnte das auch irgendwo verstehen. „Man liest ja überall, dass Sex so ein elementarer Teil ist.“ Sie wollte es ihm zuliebe versuchen.

Drei-, viermal hatten sie sich vorher erst getroffen. Mehr Dates waren kaum möglich. Ihre Eltern waren streng, sie konnte nicht ständig neue Ausreden erfinden. Und es sollte doch ihr Geheimnis bleiben. An einem Tag im November 2010 ging sie das erste Mal zu ihm nach Hause. Es war niemand außer ihnen da. Sophie hatte an diesem Tag ein komisches Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht. „Ich hätte einfach umdrehen sollen“, sagt sie heute darüber. „Aber das sagt sich so leicht.“

Wo er wohnt, weiß sie bis heute nicht. „Auf dem Hinweg war ich zu aufgeregt, um etwas wahrzunehmen. Und auf dem Rückweg war ich so verstört, dass ich einfach irgendwo hingerannt bin. Ich hatte keine Ahnung, wo ich bin.“

Schon als er ihr die Tür aufmacht, merkt Sophie, dass irgendetwas anders ist

Was sie erst später erfährt: Hinter ihrem Rücken war er längst eine Wette mit seiner Clique eingegangen. Nicht länger als zwölf Monate wollte er brauchen, um mit Sophie zu schlafen. Es war bereits der zehnte Monat. Sophie atmet tief ein und aus. „Also hat er sich dazu entschieden, mir die Entscheidung abzunehmen.“

Schon als er ihr die Tür aufmacht, merkt Sophie, dass irgendetwas anders ist. „Was ist mit ihm? Wie sind Leute, die gleich Sex haben? Muss das so? Ist er vielleicht einfach nur aufgeregt?“

Er packt Sophie am Arm und zieht sie in die Wohnung. Das Vorsichtige, Zärtliche von sonst ist weg. Er drückt seinen Mund auf ihren. Als seine Hände damit beginnen, ihr T-Shirt nach oben zu ziehen, schießt Panik in ihr hoch. „Ich kann das nicht. Ich kann das nicht.“ Sie will aufhören. Sagt es ihm. Erst leise, dann laut, immer lauter. Er hört nicht. Sie wehrt sich. Vergebens. Er drückt sie aufs Bett, hält ihren Mund zu, nimmt ihr die Luft zum Schreien.

„Dann hat er sein Ding durchgezogen.“

Kurz darauf irrt sie durch die unbekannten Straßen, mit Würgemalen am Hals, Blut im Schritt und voller Adrenalin, sie fragt sich durch und gelangt so zur nächsten S-Bahnstation. Auf ihrer Fahrt nach Hause plärrt Bruno Mars aus einem Handylautsprecher ein paar Reihen vor ihr:

Gave you all I had and you tossed it in the trash
You tossed it in the trash, you did
To give me all your love is all I ever ask
'Cause what you don't understand is

Das Lied brannte sich in Sophies Erinnerung ein und ist heute einer der Schlüsselreize ihrer Posttraumatischen Belastungsstörung.

Ein Strudel aus Angst und Hilflosigkeit durchfuhr sie

Wenn sie es hört, fluten die traumatischen Erinnerungen ihr Gehirn und rauben ihr die Fassung. Genauso ist es, wenn man ihr die Hände auf den Mund legt oder sie auf ähnliche Art und Weise am Sprechen hindert. Ein Sexpartner missachtete einmal diese Regel. Sophie geriet sofort in Panik und biss ihm die Hand blutig.

Manchmal kommen die Attacken aber auch einfach so.

An einen dieser Momente kann sie sich besonders gut erinnern. Es war Nacht. Sie lag im Bett. Dann, plötzlich – ging es los. Ein Strudel aus Angst und Hilflosigkeit durchfuhr sie. Alle Muskel ihres Körpers spannten sich an. Erst wollte sie noch jemanden anrufen und um Hilfe bitten. Aber sie zitterte so sehr, dass ihr das Handy aus der Hand fiel. Sie weinte und krampfte. Zwei Stunden lang.

Nach der Vergewaltigung brach der Kontakt ab. Kein Wort. Keine einzige Nachricht. Auch keine Anzeige von ihr.

Nur 5 bis 15 Prozent der Betroffenen zeigen einen Vergewaltigungsfall an– aus Scham leugnen sie das Erlebte. Die Strafen fallen oft milde aus, nur jede 100. vergewaltigte Frau erlebt die Verurteilung des Täters. Die Dunkelfeldforschung geht von einem deutlich höheren Wert aus, doch es gibt kaum Studien.

Sophie leugnet die Gewalterfahrung, redet sich ein, dass sie selbst schuld sei, dass sie es selbst herbeigeführt habe, weil sie zu ihm ging. Bei einem Partyspiel mit Freunden schwärmte Sophie sogar von ihrem ersten Mal. „Ich habe allen gesagt, dass es schön war, ich aber mit meinem Freund nicht mehr zusammen bin.“ Inzwischen weiß sie, dass es nicht ihr Fehler war, sondern er sie kaltblütig ausgenutzt hat.

Für den Gang zur Polizei fehlt ihr wieder die Kraft

Wirklich in Worte fasst sie das Erlebte erst fünf Jahre später. Sie hat eine Therapie begonnen, dort erzählt sie von dem Vorfall. Erst da versteht Sophie, dass sie vergewaltigt wurde. Für den Gang zur Polizei fehlt ihr jedoch wieder die Kraft. Sie hat keinerlei Beweise. Außerdem: Die Aussicht darauf, ihm noch einmal begegnen zu müssen und wieder gegen ihn, dieses Mal vor Gericht, zu verlieren, ist für Sophie unerträglich.

Die Jahre danach waren schwer für sie. Zweimal versuchte sie, sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben zu nehmen. Sie war oft krank und weint viel. Sie hatte Albträume. Von der Tat, aber auch von Szenarien, in denen sie dem Willen eines anderen unterworfen wurde. „Manchmal waren das Menschen, manchmal Dinosaurier“, sagt sie. Immer verlor sie dabei die Kontrolle.

Dann Lichtblicke. Hoffnung. Neue Freunde und die ersten lustvollen Erfahrungen mit Intimität. 2020, zehn Jahre nach der Vergewaltigung, fühlte sie sich endlich besser. Geholfen hat ihr dabei vor allem ein strukturierter Alltag. In einer gewöhnlichen Woche gibt es zurzeit kaum einen Tag, an dem Sophie nicht irgendetwas unternimmt. Sie gibt Nachhilfe, nimmt Gesangsunterricht und spielt in einem Laientheater. Für sie sind diese Konstanten essentiell – sie geben ihr Sicherheit und machen sie lebensfähig.

Das Trauma wird Sophie jedoch auf ewig begleiten. Besonders schlimm ist die Zeit rund um den Tag, an dem sich die Vergewaltigung jährt. Dann weint sie viel und ist nervös. Aber Sophie versucht, damit zu leben. Inzwischen hat sie auch wieder Spaß an Sex. Vor kurzem ist sie mit ihrem Freund in eine gemeinsame Wohnung gezogen. Sie ist sehr dankbar für all das, was er ihr gibt. Nähe, Geborgenheit.

Sophie weiß aber auch, dass ihr Freund mit der Situation oft überfordert ist. Wenn sie eine Panikattacke hat und dann nicht mehr ansprechbar ist, wirkt er hilflos. Er sitzt dann neben ihr, tätschelt ihr den Rücken und redet ihr gut zu. „Es gibt aber auch Momente, da hilft es mir sehr, mich einfach an ihn zu kuscheln und seine Nähe zu spüren“, sagt sie.

Der Kellner kommt. Seine Hand fährt in Richtung Teller. „Fertig?“ - „Ja. War super, vielen Dank. Wie immer großartig.“

I'd catch a grenade for ya 
Throw my hand on a blade for ya 
I'd jump in front of a train for ya 
You know I'd do anything for ya 

But you won’t do the same.

Die Erinnerungen an den Tag im November 2010 sind ein unabänderlicher Teil von Sophies Leben geworden. Die Erinnerung an die Panik, als sie merkte, dass er ihr körperlich überlegen ist, dass er nicht von ihr ablassen wird. Die Erinnerung an seine Bewegungen, an seinen Atem auf ihrer Haut, an die Schmerzen.

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