„Wenn Sie die DDR nicht einbeziehen, verstehen Sie nicht was hier passiert ist!“
In den Umbruchsjahren nach der Wiedervereinigung gab es in der Bundesrepublik einen Anstieg rechter Gewalt. Vor allem unter jungen Menschen. Ein Rückblick.

Berlin-Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) konnte über Jahre hinweg in der gesamten Bundesrepublik ohne polizeiliche Aufklärung morden. Zehn Menschen fielen ihm zum Opfer. Erst am 4. November 2011 flogen die bekanntesten drei Gesichter durch die sogenannte Selbstenttarnung auf. Erst dann wurden etliche Fehler innerhalb der Sicherheitsbehörden öffentlich, rassistische Ermittlungen wurden bekannt. Hat sich die Bundesrepublik seitdem verändert? Die Berliner Zeitung am Wochenende nimmt diesen zehnten Jahrestag zum Anlass, um in einer zehnteiligen Serie Betroffene und Verantwortliche sprechen zu lassen. Wie sehen sie die Vergangenheit? Was hoffen sie für die Zukunft? Die Pädagogin Lucia Bruns blickt mit uns zurück in die 1990er-Jahre und rekonstruiert die Entwicklungen in der Jugendarbeit.
Lesen Sie hier mehr aus der Reihe zum NSU:
In den 1990er-Jahren gab es kaum Konzepte für die Arbeit mit rechten Jugendlichen. Ein verbreitetes Verständnis von Rechtsextremismus war, dass das Phänomen eine Folge von Veränderungen in der Industriegesellschaft ist. Für die soziale Arbeit hieß das: Okay, rechte Jugendliche sind halt Opfer der Modernisierung, Opfer der komplexen Verwerfungen des Kapitalismus und sie brauchen Unterstützung in ihrer Lebensgestaltung. Inzwischen ist es längst Standard, dass Jugendarbeiter die Jugendlichen in ihrer Situation zunächst akzeptieren. Ohne diesen Ansatz ist jeder pädagogische Prozess unmöglich.
Aber hinter dem Konzept steht auch etwas anderes. Es heißt nicht nur, man akzeptiert die Jugendlichen, sondern auch, man geht aktiv auf sie zu und unterstützt sie in ihrer Lebensgestaltung. Die Idee dazu kam von Franz-Josef Krafeld, der in den 1980er-Jahren in Bremen ein sozialpädagogisches Angebot für die Arbeit mit rechten Jugendlichen schaffen wollte.
Der Staat adressierte gewalttätige Jugendliche
Ziel der akzeptierenden Jugendarbeit war vor allem, Gewalttätigkeit einzudämmen. Deshalb wurde das Konzept vom Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AGAG) auf die neuen Bundesländer übertragen, das ab 1991 unter Angela Merkel als Bundesfamilienministerin auf die rechten Ausschreitungen in Hoyerswerda reagierte.
Die Adressat:innen des Aktionsprogramms AGAG waren vor allem gewalttätige Jugendliche – und das wiederum waren vor allem rechte und männliche Jugendliche. Es richtete sich vor allem an Täter. Daran gab es damals schon Kritik, etwa aus der feministischen Erziehungswissenschaft: Es ist ein Problem, sich nur auf die Gewalttätigen zu konzentrieren, weil dadurch andere Zielgruppen herunterfallen. Welche Gewalt geht von rechten Frauen aus? Welche Rolle spielen Gewaltverhältnisse in der Familie? Welche Rolle spielt Rassismus oder Antisemitismus? Diese Fragen wurden ignoriert.
AGAG war nur für die neuen Bundesländer konzipiert. Bisherige Jugendhilfestrukturen waren mit der Wende abgewickelt worden. Die Sozialarbeiter:innen von damals sagen heute zu uns: „Wenn Sie die DDR nicht einbeziehen, verstehen Sie nicht, was hier passiert ist.“ Auch sie waren ja in dieser Umbruchssituation. In herausfordernden, persönlichen Situationen. Und fast alle waren dafür gar nicht ausgebildet, hatten ein Handwerk oder andere Berufe gelernt.
Viele, mit denen ich spreche, sagen heute: Es war eine sehr schwierige Zeit. Aber wir haben halt weitergemacht, weil wir hatten den ganzen Bahnhof voll rechter Skinheads – zum Beispiel in Lichtenberg. Dann hat man denen halt erstmal einen Raum – zum Beispiel einen Jugendclub – gegeben, um überhaupt mit ihnen arbeiten zu können. In Teilen finde ich das nachvollziehbar. Irgendwo musste man eben anfangen. Und als Wissenschaftlerin sage ich natürlich nicht: Die wollten nur die Naziszene stärken.
Und trotzdem habe ich Kritik an dem Konzept. Das sogenannte NSU-Trio verbrachte seine Jugend im Winzerclub in Jena und war dort eingebunden, Uwe Mundlos zum Beispiel war an der ersten Renovierung beteiligt. Das heißt, rechte Jugendliche haben diese Orte mitgestaltet. Dort konnten Rechtsrockbands proben, Konzerte stattfinden. Es war auch Ausgangspunkt rechter Straftaten. Und das hatte Auswirkungen auf die Umgebung dieser Orte. Das haben schon damals Leute aus der lokalen Zivilgesellschaft und Antifaschist:innen kritisiert, die in ihren Städten beobachtet haben, dass Jugendclubs in ihren Städten zu rechten Hotspots wurden. Und zwar von AGAG – also mit staatlichen Mitteln – finanziert. Das hatte enorme Auswirkungen darauf, wie sich andere Jugendliche überhaupt bewegen konnten. Wer links, alternativ oder migrantisch war, war davon eingeschränkt.
Was also braucht eine rechte Szene, um sich zu organisieren? Ein Rechtsrockkonzert ist nicht nur Party, sondern schafft eine gemeinsame Lebenswelt, ist eine Praktik der Vergemeinschaftung. Und die war ideologisch durchsetzt und männlich geprägt. Solche Orte, an denen beispielsweise Konzerte stattfinden, sind für die rechtsextreme Szene enorm wichtig. Und genau die wurden mit dem Programm gegen Aggression und Gewalt bestärkt und finanziert. Und durch sozialpädagogisches Handeln mit ermöglicht.
Es braucht Männlichkeitskritik
In diesem Konzept der Jugendarbeit haben Überlegungen von Geschlecht und Rassismus gefehlt. In manche Jugendclubs sind Mädchen nicht gegangen, weil das Klima einfach „zu krass“ war. Durch die Abwehr und die Abwesenheit von Frauen werden diese Prozesse auch ermöglicht. Deshalb braucht es Männlichkeitskritik.
Die ganze Kontroverse um die akzeptierende Jugendarbeit wurde kaum aufgearbeitet. Es gibt Stimmen, die sich positiv auf die Arbeit beziehen. Andererseits führte die Kritik dazu, dass der Begriff aus dem Fachdiskurs verschwand. Heute stellt sich zum Beispiel mehr die Frage: Wo sind die Grenzen der Jugendarbeit? Mit wem kann man arbeiten? Wer ist „nur“ Mitläufer:in? Die Geschlechterdimension gehört noch stärker in die Ausbildung. Wie die Fragen von Antifeminismus und maskuliner Gewalt, oder die Rolle von Familie.
Wir müssen fragen: Haben wir wirklich aus den Fehlern der Neunzigern gelernt? Wer wird eigentlich von Jugendarbeit adressiert? Da sind leider oft immer noch recht schnell die männlichen Täter im Fokus. Deshalb brauchen wir eine intensivere Auseinandersetzung mit den Neunzigern. Die wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Fragen ist wichtig für die heutige Sozialpädagogik.
Aufgezeichnet von Antonia Groß.
Lucia Bruns ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Alice-Salomon Hochschule Berlin. Dort arbeitet sie im Forschungsprojekt JUPORE - Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche in den 1990er Jahren. Sie promoviert zum NSU und Jugendarbeit.