Ärzte über den Kampf gegen die Frühgeburt bei Schwangeren: Das Dauerliegen ist zwecklos und trotzdem wird die Maßnahme weiterhin angewendet

Dreieinhalb Monate im Bett können endlos sein. Die Tage schleppen sich dahin, auf den x-ten Tierfilm folgt die nächste TV-Reisereportage. Schon Spielfilme und Bücher, erinnert sich Andrea Blesser (Name geändert), seien ihr damals zu kompliziert erschienen.

„Man findet sich damit ab, man weiß ja, wozu man es tut“, erzählt die Berlinerin. Es war für ihr eigenes Kind – für die bange Hoffnung, es irgendwie bis in die dreißigste Schwangerschaftswoche im Bauch zu behalten.

Mehr als den Gang zur Toilette hatte der Arzt der 38-Jährigen nicht erlaubt, nachdem im Ultraschall ein zu kurzer Gebärmutterhals aufgefallen war – ein bekanntes Warnzeichen für eine Frühgeburt. Als der Sohn schließlich in der 32. Woche zur Welt kam, war die Mutter so schwach, dass sie mit dem Rollstuhl zum Neugeborenen geschoben werden musste.

Jeder fünften Schwangeren wird Liegen verordnet

Inzwischen weiß Andrea Blesser, dass sie sich die Tortur hätte sparen können. „Eine strenge Bettruhe hält keine Frühgeburt auf, sie bringt nur Komplikationen mit sich“, sagt Irene Hösli, Chefärztin der Geburtshilfe am Universitätsspital Basel.

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Das sehen auch andere Experten so. „Es gibt keinerlei Belege dafür, dass diese Praxis hilfreich sein könnte“, urteilte vor drei Jahren eine Expertengruppe der Cochrane Collaboration nach Prüfung des gesamten wissenschaftlichen Wissens.

Herumgesprochen hat sich das offensichtlich noch nicht. US-amerikanischen Daten zufolge wird immer noch jeder fünften Schwangeren wegen drohender Frühgeburt oder anderer Probleme konsequentes Liegen verordnet. Für Deutschland existierten keine vergleichbaren Daten, sagt Ekkehard Schleußner, Chef der Klinik für Geburtsmedizin am Universitätsklinikum Jena.

Komplexe Ursachen

Der Frühgeburts-Experte vermutet jedoch, dass sich die Quoten in ähnlicher Größenordnung bewegen. Mindestens. Denn es sei auch hierzulande schwierig, in Kliniken und Praxen die 150 Jahre alte Idee aus den Köpfen zu bekommen, nach der man bloß die Schwerkraft ausschalten muss, um den Geburtsprozess aufzuhalten.

„Heute wissen wir: Das ist zu simpel gedacht, die Ursachen einer Frühgeburt sind viel komplexer“, sagt Schleußner. So gibt es mehrere Faktoren, die das gefürchtete Ereignis zu begünstigen scheinen.

Dazu zählen zum Beispiel eine Schwangerschaft im ganz jungen, aber auch im höheren Alter, Rauchen, Infektionen, Mehrlinge oder entsprechende Ereignisse im engen Verwandtenkreis. Die meisten dieser Faktoren machen eine Frühgeburt keineswegs unausweichlich, sie verdoppeln lediglich das eigentlich geringe Risiko.

Eine Geschichte des Scheiterns

Ein Mysterium nennt Roberto Romero, Leiter der perinatalen Forschung der amerikanischen National Institutes of Health, deshalb die Ursachen des Leidens. Sicher ist er sich nach jahrzehntelanger Suche nur in einem: Eine Frühgeburt ist nicht einfach nur ein vorzeitig eingeleiteter Geburtsprozess oder eine einzelne Krankheit.

Sie ist die gemeinsame Endstrecke und das tragische Symptom von zahlreichen ganz unterschiedlich ausgelösten Leiden: beispielsweise fehlgeleitete Immunreaktionen, Hormonstörungen, anatomische Fehlbildungen und Infektionen.

Kein Wunder, dass sich die Medizin sehr schwergetan hat, erfolgreich einzugreifen. Im Prinzip ist die Geschichte des Kampfes gegen die Frühgeburt eine Geschichte des Scheiterns.

Beim Dauerliegen erhöht sich Thromboserisiko

Nicht nur wegen des sinnlosen Versuchs, diese per Bettruhe aufzuhalten. „Früher haben wir die Frauen wochenlang mit Wehenhemmern behandelt, das war falsch“, sagt Ekkehard Schleußner. Länger als 48 Stunden, heißt es heute, sollten diese Mittel in der Regel nicht gegeben werden – und das auch nur, um das Kind möglichst optimal auf die Geburt vorzubereiten.

Was nicht bedeutet, dass sich alle daran halten. Seit Jahren predigt er das neue Wissen auf Kongressen und Reisen: „Manchmal fragt man sich, wozu es überhaupt Forschung gibt, wenn so viele Kollegen ihre veralteten Therapien beibehalten“, klagt er.

Dabei sind sowohl bei langer Wehenhemmung als auch bei Bettruhe gefährliche Nebenwirkungen zu befürchten. Um den Faktor 15 erhöht sich beim Dauerliegen zum Beispiel das Thromboserisiko, das in der Schwangerschaft ohnehin steigt.

Auch Erfolge im Kampf gegen Frühgeburten

Gleichzeitig führt es auch zu Knochen- und Muskelabbau und macht Depressionen wahrscheinlicher. Zu den Risiken einer Wehenhemmung zählen Herzrhythmusstörungen, Übelkeit und Muskelzittern – vor allem wenn sie, wie oft der Fall, mit längst überholten sogenannten Betamimetika durchgeführt wird.

Aber es gebe im Kampf gegen die Frühgeburt auch Erfolge zu verzeichnen, sagt Daniel Surbek, Chefarzt der Geburtshilfe am Inselspital Bern. So sei inzwischen bekannt, dass ein bisschen Bewegung für das Kind sogar förderlich ist, solange man schwere Anstrengungen vermeidet.

Der wichtigste Durchbruch der letzten Zeit ist Surbek zufolge aber der Einsatz von Progesteron gewesen. Das Geschlechtshormon beruhigt die Muskulatur der Gebärmutter und des Uterus.

Operative Stärkung Verstärkung kann Prozess bremsen

Ohne Progesteron, das weiß man schon lange, kommt es zum Abbruch der Schwangerschaft. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass das Hormon das Risiko einer Frühgeburt um 40 bis 60 Prozent verringern kann, wenn bei der Ultraschalluntersuchung eine Verkürzung des Gebärmutterhalses auffällt.

„Sobald die Wehen jedoch eingesetzt haben, lässt sich durch die Gabe wenig erreichen“, sagt der Frauenarzt. In bestimmten Fällen, bei vorausgegangener Frühgeburt samt anderer Warnzeichen beispielsweise, kann auch eine operative Verstärkung des Gebärmutterverschlusses, präventive Cerclage genannt, den Prozess bremsen.

Ein Check auf infektiöse Keime in der Scheide hilft im dritten Monat wiederum, das Risiko durch aufsteigende Keime klein zu halten. Ob all das dem Mythos von der heilsamen Bettruhe ein Ende machen kann?

Viele Frauen sind durchs Internet verängstigt

Irene Hösli vom Universitätsspital Basel hat ihre Zweifel. Gerade durch das Internet seien viele Frauen verängstigt und wollten aus diesem Grund auch selbst nicht mehr aufstehen.

„So eine Patientin“, sagt sie, „müssen sie als Arzt sehr, sehr gut begleiten, um ihr die Furcht zu nehmen und sie vom Gegenteil zu überzeugen.“