Aids-Entdeckung: „Auf einmal hatte jeder Angst vor einer Ansteckung“
Berlin - Die Geschichte einer der größten Seuchen unserer Zeit beginnt mit einer kurzen, unscheinbaren Meldung in einem US-Fachblatt. Sie erscheint Anfang Juni 1981 und berichtet über rätselhafte Symptome bei fünf jungen, homosexuellen Männern. Dass sie an Aids leiden, wird sich erst später herausstellen. Aber da hat die Krankheit sich schon bis nach Europa ausgebreitet und zahlreiche Todesopfer gefordert.
Osamah Hamouda, Aids-Experte am Robert-Koch-Institut in Berlin, hat sein gesamtes Berufsleben der Bekämpfung der Seuche gewidmet. Zurzeit beunruhigt ihn eine neue Sorglosigkeit der jungen Leute.
Herr Dr. Hamouda, wann haben Sie zum ersten Mal von Aids gehört?
Das muss 1983 gewesen sein, als ich noch Medizinstudent an der FU Berlin war und die Wochenzeitschriften erstmals groß über die neue Erkrankung berichten. Damals kam auch die erste wissenschaftliche Publikation über den ersten deutschen Fall heraus – es ging um einen Mann aus Frankfurt am Main.
Wie reagierte die Öffentlichkeit auf solche Nachrichten?
Am Anfang dachte man, Aids sei auf die Gruppe der homosexuellen Männer beschränkt. Deshalb fühlten sich viele sicher vor der Krankheit. Das änderte sich schlagartig, als klar wurde, dass Aids eine Viruserkrankung ist und auch über Blutkonserven, von Mutter zu Kind und beim ungeschützten Sex zwischen Mann und Frau übertragen werden kann. Auf einmal hatte praktisch jeder Angst vor einer Ansteckung, und auch in der Politik sorgte man sich, dass die Krankheit sich schnell ausbreiten könnte.
Das war Mitte der 80er-Jahre. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Unvergesslich ist die Postwurfsendung, mit der sich die damalige Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth 1985 an alle Bürger wandte. Sie warnte eindringlich vor den Gefahren der neuen Krankheit, gegen die es damals noch keine Therapie gab. Sie wies aber auch auf die Möglichkeiten der Prävention hin und rief zur Solidarität mit den Betroffenen auf.
Die Krankheit grassierte weltweit, und in den Städten gingen die Menschen für mehr Forschung und Unterstützung auf die Straße. Viele junge Mediziner fühlten sich damals aufgerufen, und auch ich beschloss, mich auf dem Gebiet zu engagieren.
Womit haben Sie angefangen?
Mit Aids-Aufklärung in Berliner Schulen. Das war 1987, ich hatte gerade meine Promotion abgeschlossen. Der Senat stellte damals rund sechzig junge Ärzte und Pädagogen ein, um über die Krankheit zu informieren und zur Prävention zu ermuntern. Viele Jugendliche, Lehrer und Eltern waren verängstigt und sahen überall Ansteckungsgefahren.
Über Sexualität zu reden, war zu der Zeit noch nicht so locker möglich wie heute. Wie sind Sie vorgegangen?
Möglichst offen, cool und witzig. Wir haben zum Beispiel mit den Jugendlichen Kondome aufgeblasen und Rollenspiele gemacht. Wenn das Eis gebrochen war, konnten wir unsere Botschaft vermitteln. Auf Humor setzte auch die Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung – etwa mit dem Fernsehspot von der Supermarktkasse: „Tina, wat kosten die Kondome?“
Wann kamen die ersten Therapien?
Es ging los mit dem Wirkstoff AZT, der die Virusvermehrung im Körper hemmt. Das war 1987, und danach kamen weitere Präparate auf den Markt. Sie waren alle nur begrenzt wirksam und hatten viele Nebenwirkungen. Der große Durchbruch kam mit der Kombinationstherapie, die zum ersten Mal 1996 beim Aids-Kongress in Vancouver vorgestellt wurde. Heute gibt es mehr als 35 Arzneiwirkstoffe, die teilweise in einer Pille kombiniert werden und deren Nebenwirkungen deutlich geringer als früher sind. Wenn die Therapie früh genug begonnen und regelmäßig angewandt wird, haben HIV-Infizierte inzwischen eine annähernd normale Lebenserwartung. In der Regel sind sie dann auch kaum noch infektiös. Dass so schnell wirkungsvolle Medikamente zur Verfügung standen, ist schon einmalig in der Medizingeschichte.
Wie ist das Tempo zu erklären?
Es kam damals zu einer beispiellosen Aufstockung öffentlicher und industrieller Forschungsbudgets für diese Krankheit. Dazu beigetragen haben sicher die Selbsthilfegruppen, die mit ihren Demonstrationen und Kampagnen in vorher nie gekanntem Ausmaß Einfluss auf die Politik genommen haben.
Haben sie auch die Gesellschaft verändert?
Zweifellos. Aids hat dazu beigetragen, die Homosexualität zu entstigmatisieren und ihre Diskriminierung zu ächten. Die Gesellschaft ist toleranter gegenüber andersartigen sexuellen Lebensstilen geworden. Allerdings stoßen HIV-Infizierte und Aids-Patienten auch heute noch auf Vorurteile und Unkenntnis, selbst bei Ärzten.
Insgesamt hat Aids jedoch viel von seinem Schrecken verloren, vor allem in der westlichen Welt. Wie wirkt sich das aus?
Wir beobachten leider eine neue Sorglosigkeit. Viele, die den Beginn der Epidemie nicht selbst miterlebt haben, denken, Aids sei nicht so schlimm, und verzichten auf ein Kondom. Dadurch nehmen auch andere sexuell übertragbare Infektionen wieder zu. Sorgen macht uns zum Beispiel die große Zahl neuer Syphilisinfektionen – da sind wir wieder auf dem hohen Niveau von 1983. Die Prävention muss deshalb unvermindert weitergehen.
Sie sind dem Gebiet bis heute treu geblieben. Wie kommt das?
Da bin ich nicht allein. Neulich, bei der Eröffnung der Münchner Aids-Tage, rief der Kongresspräsident alle nach vorn, die mindestens 25 Jahre in dem Feld tätig sind. Ein paar Minuten später war die Bühne voll. Wer dort stand, hat das Aufkommen einer weltweiten Epidemie mit einer tödlich verlaufenden Krankheit miterlebt. Anfangs war weder der Erreger bekannt noch gab es Medikamente. Heute wird weiter nach einer heilenden Therapie gesucht, und auch ein Impfstoff ist noch nicht gefunden. Es ist ein sehr spannendes Thema, das meine Generation geprägt und viele nicht mehr losgelassen hat.