Automatisierte Züge: Keine Lokführer, kein Lokführerstreik
Braucht es eigentlich noch Lokführer? Das fragt sich mancher, der bei den vielen Bahnstreiks der vergangenen Monate Nerven gelassen hat – und aktuell auch wieder lässt. Auf den ersten Blick ist diese Frage gar nicht so abwegig – ganz unabhängig davon, ob man Streiks für berechtigt hält oder nicht. Denn auch wenn die Tätigkeit eines Lokführers in Kindergärten als Traumberuf gehandelt wird, ist die Realität ernüchternd.
Im Schnitt muss jeder Lokführer damit rechnen, im Laufe seines Berufslebens zwei bis drei Menschen zu überfahren, ohne etwas dagegen tun zu können. Dazu kommt die ermüdende Aufgabe, ein System zu überwachen, das viele Situationen automatisiert meistert. Die meiste Zeit sind Lokführer damit beschäftigt, zu beweisen, dass sie trotzdem noch nicht eingeschlafen sind. Sie müssen eine Sicherheitsfahrschaltung betätigen, die ihrerseits überwacht, dass der Fahrer bei der Sache ist.
„Ein Lokführer hat kaum einen Entscheidungsspielraum“, sagt Thomas Strang vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Oberpfaffenhofen: „Er macht eigentlich nichts anderes, als von einem grünen zum nächsten roten Signal zu fahren.“ Strang hat mit seinen Kollegen ein Fahrerassistenzsystem für Lokführer entwickelt, bei dem sich Züge via Funk über ihre geplante Fahrstrecke und ihre Länge austauschen. Ergibt sich dabei eine drohende Kollision, warnt das System den Lokführer. Es könnte sogar eine Notbremsung auslösen.
Großer bürokratischer Aufwand
Da scheint der Schritt zur vollständigen Automatisierung nicht weit zu sein. Schließlich fahren Autos schon heute autonom auf der Autobahn, wenn auch nur im Probebetrieb. Die Bewegung auf der Schiene ist außerdem berechenbarer als die auf der Straße. Es gibt nur vorgegebene Wege – und einen Fahrplan. Anders als auf der Straße kann ein Zug dank des Fahrplans und aufgrund bereits vorhandener Automatisierung „wissen“, wo er auf andere trifft, welches Gleis frei ist, und ob die Weiche richtig steht. Das alles spricht dafür, dass selbstfahrende Züge technisch keine allzu große Herausforderung sein sollten.
Das bestätigt auch Strang: „Dass wir den Lokführer so noch brauchen, ist nicht technologisch begründet.“ Ein großes Hemmnis für Innovationen im Bahnbetrieb seien die Zulassungsverfahren, die im Unterschied zur Luftfahrt und zum Straßenverkehr „sehr viel zerklüfteter“ seien. So könne es sein, dass ein neuer Zug zwar in München zugelassen ist, in Stuttgart aber auf einer ähnlichen Strecke nicht fahren darf. „Je tiefer Technologie in den Prozess eindringt, umso größer ist der bürokratische Aufwand.“ Strang führt das auch auf ein großes Traditionsbewusstsein im Eisenbahnverkehr zurück, das eine „hohe emotionale Komponente“ mit sich bringe.
Andererseits gibt es einige Beispiele dafür, wie gut fahrerloses Fahren auf der Schiene bereits funktioniert. Seit sechs Jahren verkehren in Nürnberg die U-Bahn-Linien 2 und 3 fahrerlos. Die Züge sind nach Angaben der Stadt Nürnberg fast zu 100 Prozent pünktlich, verbrauchen dank optimierter Fahrweise weniger Energie und sind flexibler einsetzbar. Fahrerlose Züge können in deutlich kürzerem Takt fahren, weil die Technik den Ablauf effizienter organisiert. Außerdem wird zwischen den Zügen weniger Sicherheitsabstand benötigt, als wenn menschliche Reaktionssekunden eingeplant werden müssen. Ein dichterer Takt wäre eine Erleichterung für viele Großstädte, in denen das S-Bahn-Netz im Berufsverkehr regelmäßig überlastet ist.
Automatisierte Bahnen in 16 europäischen Städten
Nürnberg ist nur eines von vielen Beispielen. Allein in 16 europäischen Städten von Kopenhagen bis Turin fahren U-Bahnen oder Flughafen-Bahnen komplett automatisiert. Auch in London wird die U-Bahn in den nächsten Jahren umgestellt – aus der puren Not heraus, um einen Verkehrskollaps in der bis 2030 zehn Millionen Einwohner zählenden Metropole abzuwenden. Denn zunehmende Pünktlichkeit und eine höhere Taktung sollen mehr Menschen überzeugen, vom Auto auf die Bahn umzusteigen. Das wäre auch ein gutes Argument für die Deutsche Bahn.
Ein beliebtes Gegenargument: Dies würde hohe Investitionen bedeuten. Die Umstellung der Nürnberger U-Bahn hat mehr als 600 Millionen Euro gekostet. Aber in zehn bis zwölf Jahren amortisieren sich die Kosten nach Berechnungen der Verantwortlichen.
Berliner Forscher hatten ein ähnliches System bereits für die U-Bahn-Linie U5 ausgetüftelt. „Das hätte man sauber automatisieren können“, sagt Jürgen Siegmann, Professor für das Fachgebiet Schienenfahrwege und Bahnbetrieb an der Technischen Universität (TU) Berlin – und ergänzt enttäuscht: „Das wäre ein Vorzeigeprojekt gewesen.“ Aber der Senat stoppte die Weiterentwicklung – unter anderem aus Kostengründen.
Siegmann hat autonom fahrende U-Bahnen in vielen Städten, unter anderem in Kopenhagen und Seoul, untersucht und ist überzeugt: „Die grundsätzlichen Untersuchungen sind übertragbar.“ Jetzt sei die Politik am Zug. Im Gegensatz zur U-Bahn sieht er die Offenheit der Strecken im Fernverkehr als Problem. Denn aus seiner Sicht ist die Technik nicht weit genug, um Hindernisse auf den Gleisen zu unterscheiden. Man könne auf das Auge des Lokführers nicht verzichten. Auch wenn Lokführer heutzutage viele der Schnellfahrstrecken im automatischen Modus befahren, müssen sie die Gleise stets im Blick haben und entscheiden, wie sie auf Hindernisse reagieren.
Gefährliche Vollbremsung
DLR-Forscher Strang stimmt ihm zu: „Hier brauchen wir die höhere menschliche Intelligenz.“ Denn angesichts der hohen Geschwindigkeiten sind Vollbremsungen – oder im Fachjargon Schnellbremsungen – für die Fahrgäste gefährlich. „Bei Tempo 230 sitzen sie danach nicht mehr auf ihren Sitzen.“ Deshalb lösen Lokführer angesichts einer Kuh oder eines Rehes auf dem Gleis beispielsweise häufig keine Vollbremsung aus.
Wenn die Technologie die Entscheidung übernimmt, spart sie zwar die menschliche Reaktionszeit, was als Argument für eine höhere Sicherheit gilt. Jede falsche Vollbremsung hingegen gefährdet Fahrgäste und vermindert zudem die Effizienz des Zugverkehrs. Noch, so vermuten die beiden Experten, geht diese Rechnung zugunsten des Menschen im Führerstand auf. Wenn hingegen nicht nur jeder einzelne Zug intelligent entscheidet, sondern das gesamte System miteinander vernetzt ist, wenn Gleise, Signale und alle Züge miteinander kommunizieren, ließe sich das wohl lösen. Zumal intelligente Algorithmen und die modernsten Verfahren der Bilderkennung schon in der Lage sind, Menschen und Kühe voneinander zu unterscheiden. Nur muss das jemand entgegen allen bürokratischen Hürden beweisen.
Für diese Vision müsste die gesamte Infrastruktur umgerüstet werden. Ein teures Unterfangen, fürchtet Siegmann, das sich erst in fernerer Zukunft und eher für neue Strecken durchsetzen wird. „Die heutigen Lokomotiven halten noch 40 Jahre, und was machen wir mit dem Personal?“ Da lohnt es sich, das alte System noch eine Zeit lang zu betreiben. Oder, wie DLR-Forscher Strang sagt: „Der Lokführer ist an dieser Stelle wirtschaftlicher.“