Biologische Waffen: Vor 100 Jahren wurde Anthrax zur Waffe

Vor einhundert Jahren wurde in der Moltkestraße 8 in Berlin-Lichterfelde das Jahrhundert der biologischen Kriegführung eingeläutet. Dort war die Sektion Politik des Generalstabs stationiert, die unter anderem für „Unternehmungen und Anschläge im Ausland“ verantwortlich war.

Deren Leiter, Hauptmann Rudolf Nadolny, schickte dem Militärattaché bei der Kaiserlichen Gesandtschaft in Bukarest am 17. Mai 1915 eine geheime Botschaft. Sie wurde in der Chiffrierabteilung des Auswärtigen Amts verschlüsselt, wo sie bis Mitte der 90er-Jahre unentdeckt schlummerte: „Für den Fall Eingreifens von Rumänien gegen uns ist Vorbereitung von Anschlägen gegen Eisenbahnen, militärische Anlagen, besonders Munitionsfabriken, ferner Verseuchung von Militärpferden u.s.w. erwünscht. Sprengstoffe und Rotzkulturen können von hier gesandt werden. Bitte drahten, was für Anschläge zweckmäßig, ob Vorbereitung dort möglich und ob, wann und wohin Sendung erfolgen soll.“

Der deutsche Gesandte in Bukarest antwortete vier Tage später, man könne mit der Verseuchung von Pferden sofort beginnen: „Nur bitte ich um genaue Anweisung für Verwendung der Rotzkulturen.“ Die bekam er umgehend von einem Mitarbeiter der Sektion Politik: „Sendung von Rotz-Kulturen geht morgen mit Dienstags Feldjäger ab. Da diesmal Aufschwemmung, genügt Ausschütten eines Röhrchens in Trinkeimer“. Und so konnte man Pferde mit dieser gefährlichen Krankheit infizieren.

Rotzbakterien dienten – unter der Tarnbezeichnung „Pferdemittel“ – auch für vergleichbare Anschläge in Spanien: „Weitere Sendungen Pferdemittel dringend erwünscht“, kabelte der deutsche Botschafter am 16. Oktober 1915 aus Madrid. Zum Versand kamen aber nicht nur „Pferdemittel“, sondern auch Milzbrandbakterien, vor allem zur Infektion von Rindern.

Es waren also deutsche Geheimdienstoffiziere, die nicht nur als Erste in der zeitgenössischen Geschichte Krankheitserreger als Sabotagemittel einsetzten, sondern auch eine der heute immer noch gefährlichsten biologischen Waffen einführten, Bacillus anthracis, den Erreger von Milzbrand.

Der Transport der Erreger erfolgte mit Kurier oder auch mit U-Booten vom damaligen österreichischen Mittelmeerhafen Pola aus nach Cartagena. Das bereitete aber immer wieder Probleme. Deshalb wurde beschlossen, die Sabotage-Bakterien vor Ort zu vermehren. Im Mai 1916 kündigte Nadolny an, dass ein „Arnold“ bald in Madrid eintreffen werde. „In Benehmen mit Euer Hochwohlgeboren“ habe dieser den Auftrag: „Herstellung von Mittel E und B“. „E“ stand für „equus“ und war die Tarnbezeichnung der Rotzerreger. Mit „B“ (für „bos“) wurden die Milzbranderreger bezeichnet. Schon am 23. Juni meldete der Botschafter nach Berlin: „Kulturen sind geglückt.“ „Arnold“, ein auch den gegnerischen Geheimdiensten gut bekannter, von ihnen aber nie gefasster Topagent, reiste anschließend nach Argentinien weiter, um dort ähnliche Anschläge zu organisieren. Acht Jahrzehnte später konnte seine Identität enthüllt werden: Es handelte sich um Dr. Herman Wupperman. Er überlebte den Krieg und zeugte hernach einen Sohn, den er sinnigerweise „Arnold“ nannte.

Auch in anderen Staaten gab es deutsche Biosabotage-Aktionen, mindestens in Argentinien, in den USA, sowie in Norwegen. Dort wurde im Januar 1917 ein Baron Otto Karl von Rosen verhaftet, bei dem neben Sprengmaterialien, Giftstoffen und „explosiven Bleistiften“ verdächtige Zuckerstückchen gefunden werden konnten. Zwei dieser Zuckerstückchen blieben im Polizeimuseum in Trondheim der Nachwelt erhalten (Bild rechts oben). Dort wurden sie erst im Jahre 1997 zufällig wiederentdeckt. In einem der Zuckerstückchen fand man eine mit einer bräunlichen Flüssigkeit gefüllte feine Kapillare.

In dieser konnten Biowaffen-Experten im britischen Porton Down noch lebensfähige Milzbrandbakterien nachweisen: Sie hatten siebzig Jahre überlebt, obwohl sie nicht in einem Gefrierschrank fachmännisch konserviert, sondern in einem verstaubten Museumsschrank bei Zimmertemperatur aufbewahrt worden waren. Mit ihnen sollten damals in Nordnorwegen Rentiere infiziert werden, die den von Großbritannien zur Verfügung gestellten Nachschub an Munition zur russischen Nordfront transportierten.

Allerdings stand hinter den Aktionen nicht nur der militärische Geheimdienst, sie geschahen auch mit Wissen und Billigung der höchsten deutschen Diplomaten. Zahlreiche der im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts aufbewahrten Dokumente der Sektion Politik tragen das Kürzel von Arthur Zimmermann, dem zunächst stellvertretenden, dann amtierenden Außenminister. Und auch die Leiter der entsprechenden diplomatischen Vertretungen im Ausland waren nicht nur im Bilde, sondern aktiv Beteiligte.

Wie aber Rudolf Nadolny auf die verruchte Idee kam, Krankheitserreger als Sabotagemittel einzusetzen, ist nicht bekannt, zumal er diese Aktionen in seinen Memoiren unterschlägt. Im Gegensatz zu dem Chemiker Fritz Haber, dem Initiator der etwa zur selben Zeit einsetzenden chemischen Kriegführung, war Nadolny kein Naturwissenschaftler oder Veterinär, sondern Karriere-Diplomat. Vielleicht waren die Biosabotageaktionen sein eigener Einfall – immerhin stammte er aus einer Gutsbesitzerfamilie, und Pferde waren sein große Leidenschaft. Sicher wusste deshalb Nadolny auch über Rotz und Milzbrand und ihre Folgen Bescheid. Denkbar wäre aber auch, dass ihm ein befreundeter Bakteriologe oder Tierarzt den Tipp gab, aber das ist Spekulation.

Woher die Sektion Politik die Bakterienkulturen bezog, ist ebenfalls nicht mehr zu ermitteln. Indizien sprechen dafür, dass das bakteriologische Laboratorium der Militär-Veterinärakademie in Berlin in der Hannoverschen Straße die Quelle war.

Aus den aufgefundenen Dokumenten geht nicht hervor, in welchem Umfang und mit welchem Erfolg die Bakterien eingesetzt wurden. Sowohl aus Madrid als auch aus Bukarest erfolgten zwar Anforderungen für weitere Lieferungen, aber daraus kann man nicht schließen, ob die zuvor übersandten Bakterien verwendet worden oder aber aus irgendwelchen Gründen nicht einsatzfähig waren. „Erfolgsmeldungen“ liegen jedenfalls den Akten nicht bei.

Vermutlich waren die Aktionen aber schon deshalb nicht sehr erfolgreich, weil aus technischen und logistischen Gründen keine größeren Mengen von Milzbrand- und Rotz-Erregern eingesetzt und jeweils nur einzelne Tiere über das Trinkwasser oder durch Fütterung infiziert werden konnten. Hinzu kam, dass sich die deutschen Aktionen nicht lange geheim halten ließen, da einige der beteiligten Agenten im Ausland verhaftet wurden und im Verhör Ziel und Zweck ihrer Aufträge enthüllten. Deshalb wurden die Unternehmungen offenbar bereits 1916/17 im Wesentlichen wieder eingestellt; jedenfalls finden sich in den Akten der Chiffrierabteilung keine Unterlagen mehr über nach Mitte 1916 organisierte Biosabotageakte.

Interessanterweise präzisierte Nadolny in einer seiner ersten Anweisungen für die Biosabotage-Aktionen am 6. Juni 1915, die Krankheitserreger sollten nicht gegen Menschen eingesetzt werden: „Anwendung von Seuchenmitteln gegen Menschen nicht erwünscht, nur gegen Pferde und Vieh für Armee.“ Die Anordnung entsprach den Richtlinien, die der Große Generalstab 1902 für den „Kriegsbrauch im Landkriege“ erlassen hatte. Darin heißt es, im Kriege sei zwar die Anwendung „alle[r] Mittel, welche die moderne Technik erfunden“, gestattet. Trotzdem seien aber „gewisse, unnötig Leiden herbeiführende Kampfmittel von jeglicher Anwendung auszuschließen“. Ausdrücklich wird in diesem Zusammenhang unter anderem die „Verbreitung von ansteckenden Krankheiten“ explizit abgelehnt.

Professor Friedrich Konrich vom Reichsgesundheitsamt erinnerte sich später, während des Ersten Weltkriegs sei „die Verwendung von Krankheitserregern zu Kampfzwecken völlig abgelehnt worden“, und zwar sowohl aus moralischen Erwägungen heraus, als auch deshalb, weil „diese Waffen viel zu langsam und unsicher wirken“ und „die eigenen Reihen kaum weniger gefährden [würden] als die des Feindes“.

Damit waren bereits im Ersten Weltkrieg Bewertungen erfolgt, die biologische Waffen als unmoralisch sowie als militärisch höchst fragwürdig einstuften. Vor allem aus diesem Grund erfolgten dann weder bei Reichswehr noch in der Wehrmacht nennenswerte Vorbereitungen zur biologischen Kriegführung – bis dann im Zweiten Weltkrieg entdeckt wurde, dass sich die französischen Kriegsgegner aktiv auf den biologischen Krieg vorbereitet hatten. Aber das ist eine andere Geschichte.