Internet in Russland: Wie Aktivisten gegen Sperren und Zensur kämpfen
Moskau - Wie weit wird der Kreml gehen, um die Begierde nach Kontrolle über das Netz zu stillen? Vor fünf Jahren hat Russland begonnen, in großem Maßstab Internetseiten zu sperren. Immer kleiner werden dort die Freiräume im Netz. Wichtigster Gradmesser für das Ausmaß der Eingriffe: der Umgang mit Facebook. In Russland ist Facebook eine wichtige Nische für freie Meinungsäußerung, alles andere als frei von Trollen, doch weitgehend abgeschirmt vom Zugriff des mächtigen Inlandsgeheimdienstes FSB. Wie also steht es um das soziale Netzwerk in Russland?
Artjom Kosljuk, 38, grauer Sweater und Jeans, arbeitet als IT-Berater und ist einer der umtriebigsten Netz-Aktivisten des Landes. „Die Gesetzgebung zum Internet“, sagt der Moskauer, „wird immer aggressiver.“ Doch glaubt er nicht, dass die russische Medienaufsicht die großen westlichen Social-Media-Giganten abschalten will.
Wohin wird das Internet steuern?
Präsident Wladimir Putin hat die Informationssicherheit unlängst zur Staatsdoktrin erhoben. Die Bedrohung durch weltweite Hacker- und Cyberattacken nimmt zu, daher hält er es für nötig, das Internetsegment zu wappnen. Damit ist er in der internationalen Welt ganz sicher nicht allein.
Doch in Russland schreibt sich das dazugehörige Schlagwort vom „souveränen Internet“ in den Kontext einer Staatspropaganda ein, die daran feilt, so gut wie jede Art von Protest und jeden Einfluss von außen in die Nähe von Umstürzlertum zu rücken. Netzkontrolle dient – aus Sicht der Machthaber – der vielbeschworenen Stabilität des Landes in einer von Feinden umzingelten Welt. Am 18. März ist Präsidentenwahl in Russland, Putin wird sich aller Voraussicht nach die vierte Amtszeit sichern. Wohin wird er das Internet steuern?
Ein Nicken von ganz oben
Artjom Kosljuk sitzt im Büro eines dreistöckigen, verwinkelten Altbaus nördlich des Moskauer Stadtzentrums. Von hier aus hält er gemeinsam mit seinen Mitstreitern der Initiative Roskomswoboda – auf Deutsch: Russisches Komitee für Freiheit – Kontakte bis in höchste Kreise der russischen Staatsduma. Eigentlich eine „reine Formalität“, das sei ihm klar, sagt er. Trotzdem hofft er jedes Mal, doch etwas zu ändern, er will die Bühne nicht ungenutzt lassen.
Facebook zu blocken, das sei ein „ganz anderes Kaliber“ als alles, was bisher gesperrt wurde, sagt Artjom Kosljuk. Millionen Russen nutzen es. „Wie stünde das Land dann da?“, fragt Kosljuk. Und deutet so an, was er denkt: in einer Reihe mit Ländern wie Iran. Ein solcher Schritt – unmöglich ohne ein Nicken von ganz oben, aus dem Kreml, glaubt der Netzaktivist. Eher gehe es darum, die Giganten aus dem Westen besser zu beeinflussen, sie zu zähmen.
Es geht nicht nur um Facebook
Facebook ist in Russland längst höchst verletzlich, weil der Gründer Mark Zuckerberg sich weigert, mit dem Inlandsgeheimdienst FSB zu kooperieren. Ein Gesetz schreibt genau das für alle ausländischen Dienste praktisch vor, nebst Umzug von Servern nach Russland – zum lokalen Speichern russischer Nutzerdaten. Beschwichtigend ignorieren die Amerikaner das Drängen der Russen auf umfassende Kooperation bislang. Wer wird nachgeben?
Und es geht nicht nur um Facebook in diesem russischen Nervenkrieg um das Netz. Gerade drohte Youtube Facebook den Rang abzulaufen, weil ein Video von Alexej Nawalny, dem vom Kreml verhinderten Anwärter auf das Präsidentenamt, die Zensoren derart erzürnt hat, dass Youtube aufgefordert wurde, es zu löschen – oder anderenfalls vollständig gesperrt zu werden.
Verbotsvorgaben durch die russischen Behörden
Genau genommen hat der Oligarch Oleg Deripaska das Vorgehen offiziell wegen „Verletzung der Privatsphäre“ vor Gericht erwirkt. In dem 25-minütigen Clip des Antikorruptionskämpfers Nawalny wird Deripaska auf seiner privaten Jacht mit einem hohen Regierungsbeamten gezeigt. Und die Affäre, die sich daraus entspinnt, wird als mögliches Puzzleteil in der Verbindung des Kremls zum US-Wahlkampfteam von Trump gehandelt.
Youtube, bekanntlich eine Tochter von Google und nicht zum ersten Mal mit offiziellen Verbotsvorgaben durch die russischen Behörden konfrontiert, ging sogar so weit, Nawalny dazu aufzufordern, das Video offline zu stellen. Die Chefetage nahm die Lage offenbar sehr ernst. Doch der Clip bleib unverändert da, läuft weiter auf die sechs Millionen Klicks zu.
Ausgefeilte Zensurfilter
Wird es bald auch in Russland eine Great Firewall geben, ein Sicherungssystem wie in China, das dort in unerreichtem Ausmaß herausfiltert, was den Zensoren nicht passt? Beobachter halten das für unwahrscheinlich. Einschüchterung und Angst sind günstiger zu haben als jede weitere technologische Lösung.
Sicher ist aber auch: Der Kreml sucht technologisch sehr wohl nach Mitteln für einen stärkere Kontrolle. Zwischenzeitlich stand der chinesische Weg direkt Pate. Der Netz- und Geheimdienstexperte Andrej Soldatow sagt, russische Beamte hätten den engen Austausch mit China bei Treffen sowohl in Moskau als auch in Peking gepflegt. Chinesische Zensoren hätten Pläne vorgelegt, Russland mit ihren ausgefeilten Zensurfiltern auszustatten.
Der Fall Deripaska
Doch am Ende, so hat Soldatow es in einem Radiointerview erklärt, überwog seinen Quellen zufolge die Skepsis. Die russischen Geheimdienstler hätten den chinesischen Techfirmen nicht über den Weg getraut. „Das war seltsam, die ganze Kooperation lief, lief, lief. Dann wurde sie schlagartig beendet.“
So geht die Internetpolitik unter Wladimir Putin einen chinesischen Weg gerade so weit, wie sie kann – und wie sie es braucht. Mit dem Ergebnis, dass die Leute offiziell ruhig alles sagen und schreiben dürfen, in der Praxis aber besonders heikle Themen entweder gar nicht ansprechen sollten oder nur dort, wo es keiner sieht oder hört.
Der Fall Deripaska – der Mann ist ein Wirtschaftsmagnat mit bestem Draht in den Kreml – zeigt, wo so eine „rote Linie“ überschritten wird. Die Medienaufsicht setzte nicht nur Youtube unter Druck, sondern auch eine Reihe Medien, die Video und Bilder aufgegriffen hatten.
Oppositionsmedien werden geblockt
Die Initiative Roskomswoboda des Aktivisten Kosljuk dokumentiert die gesperrten Seiten und gibt ihre aktuelle Zahl mit rund 100.000 an. Damit sind jede Menge Inhalte verbannt, mit denen all die Sperrgesetze ursprünglich einmal begründet wurden, von Piraterie bis Drogenhandel. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die Webseite eines Selbsthilfe-Projekts, das homo- und transsexuellen Jugendlichen Beratung bietet – geblockt. Das Portal des vom Ex-Oligarchen Michail Chodorkowski gegründeten zivilgesellschaftlichen Projekts „Offenes Russland“– geblockt.
Drei Oppositionsmedien, darunter die News-Seite des Exil-Kritikers und ehemaligen Schachweltmeisters Garri Kasparow – geblockt. Zello, eine Walkie-Talkie-App fürs Handy aus den USA, die vor allem russische Fernfahrer nutzen, um ihre Großstreiks gegen die verhasste Straßenmaut über sieben Zeitzonen zu organisieren – geblockt. Die Liste ließe sich fortsetzen.
"Sie haben verstanden, dass die Sperren umgangen werden können“
Nach Berechnungen von Roskomswoboda sind zudem mehrere Millionen weitere gesperrte Seiten zu beklagen. Was an einem Phänomen liegt, das man „Overblocking“ nennt: Russland lässt meist über IP-Adressen blocken, was in der Praxis Tausende, unbescholtene Seiten zusätzlich offline stellt. Lediglich ein russischer Blog-Inhaber, der auf E-Bücher spezialisiert und mit seinem abgewürgten Blog mittlerweile bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gezogen ist, schafft ein wenig Öffentlichkeit für diese Fehlgriffe des Sperrsystems.
„Doch sie haben verstanden, dass die Sperren umgangen werden können“, sagt Artjom Kosljuk, der Aktivist. Für ihn ist es daher wenig überraschend, dass die Medienaufsicht reagiert hat und mit neuen Vorgaben verhindern will, dass anonymes Surfen das Aufrufen verbotener Seiten weiter möglich macht. Die Medienaufsicht will die Anbieter von Software-Lösungen zum anonymen Surfen zwingen, das Verbotsregister zu beachten. Aktivist Kosljuk sorgt sich angesichts dieser Vorgänge.
"Einsetzbar gegen jeden beliebigen Widersacher“
Setzt sich dieser Trend fort, so warnt er, sei es in einem nächsten Schritt möglich und logisch, die Leute zu bestrafen, sobald sie diese Anonymisierungsdienste benutzen.
In der Vergangenheit ist es wegen eines Gesetzes, das auf „Gefällt-mir“-Angaben und das Teilen von Inhalten bis zu fünf Jahre Haft vorsieht, bereits zu zweifelhaften Gefängnisstrafen in Russland gekommen.
Alexander Werchowski, ein schlaksiger Mann mit grauem, wildem Haarwuchs, ist Chef des Analysezentrums Sowa, einer kleinen NGO in Moskau. Sie prüft solche Gerichtsurteile, die in der Regel wegen Extremismus ergehen, auf ihre Rechtmäßigkeit. Über den Gummi-Paragrafen könne theoretisch jede beliebige Sache willkürlich mit Haft bestraft werden, davon ist Werchowski überzeugt – wobei das den Sowa-Berichten zufolge bisher äußerst selektiv erfolgt. „Die Menschen sagen oft harsche Dinge. Wenn man nur gut genug sucht, kann man das bei jedem Zweiten finden.“ Bislang tun die Behörden das nicht. Und doch: Die Gesetzeslage ist eine massive Bedrohung. „Geschaffen gegen ein reales Böses, doch einsetzbar gegen jeden beliebigen Widersacher“, sagt Alexander Werchowski.
Auf unterschiedlichen Pfaden
Die Entwicklung geht auch an der IT-Wirtschaft nicht spurlos vorbei. Ein verregneter Moskauer Sonnabend in einem verglasten Betonpfeiler von einem Haus: Zahlreiche Kreative und Start-up-Gründer sitzen zwischen roten und gelben Sitzkissen, die Augen sind auf Webstatistiken gerichtet, die mit Projektoren an die Wände geworfen sind, die Smartphones liegen griffbereit in den Händen. Die Leute diskutieren gut gelaunt über Videoblogging und Suchmaschinenoptimierung. Alles wirkt wie in London, Paris oder Berlin.
Doch einige hier beschäftigt sehr, was vor sich geht. „Eine Hilfe sind diese ganzen Einschränkungen im IT-Geschäft ganz sicher nicht. Sie gehen der Wirtschaft an die Taschen“, sagt ein Medienunternehmer. Allen voran sind die Mobilfunkanbieter gemeint, die für das berüchtigte, seit KGB-Zeiten weiterentwickelte Überwachungssystem Sorm selbst aufkommen müssen. Es filtert den Telefon- und Netzverkehr. Ein anderer, Entwickler bei einem Start-up, fragt sich: Was ist morgen schon verboten oder gesperrt, was heute noch erlaubt ist?
Eine Botschaft, eine Warnung
Es sind Welten auf unterschiedlichen digitalen Pfaden. Russland will im Tech-Bereich dringend internationales Niveau erreichen, Enthusiasten präsentieren bei Branchentreffen wie in diesem Glaspalast in Moskau ihre Projekte und schicke Apps. Das Digitale reicht im Alltag mit Gratis-WLAN bis 70 Meter in die Tiefe der Moskauer U-Bahn. Und es gibt Ladestationen für Handys in jedem größeren Einkaufszentrum.
Doch hinter der Glitzerfassade ächzen Provider, weil sie die Zensur-Infrastruktur des gesamten Landes tragen sollen. „Sorm geht auf ihre Kosten, das Filtersystem, permanent gibt es Druck, und Strafzahlungen kommen dazu“, sagt der Aktivist Artjom Kosljuk. Der Durchschnittsnutzer bekommt davon wenig mit.
Das ändert sich immer dann schlagartig, wenn große populäre Dienste zumindest zeitweise gesperrt werden. Wegen beanstandeter Passagen gingen schon Wikipedia vom Netz, der soziale News-Aggregator Reddit und die russische Domain von Google. Nun hätte es wegen des fraglichen Videos von Alexej Nawalny beinahe Youtube getroffen. Für die Videoplattform war eine derart zugespitzte Konfrontation neu. Doch erst verstrich eine entsprechende Deadline, dann ließ die Behörde wenige Tage später über eine offizielle Erklärung demonstrativ Milde walten. Es ist eine Botschaft – eine Warnung. Wie wird es beim nächsten Mal ausgehen?
An Gesetzen mangelt es nicht
So verändern Internetsperren, Verwarnungen und eine willkürliche Strafverfolgung schon jetzt massiv das Internet in Russland. Der Sowa-Analyst Werchowski sagt: „Die normalen Leute haben Angst.“ Offenen Protest? Gibt es kaum – auch nicht bei den Unternehmen. „Die wenigsten Firmen sind bereit, das aktiv zu tun. Aber wir sagen ihnen, dass es genau jetzt notwendig ist, sich eine starke IT-Lobby aufzubauen“, erklärt Artjom Kosljuk, der Aktivist. Er will nicht aufgeben, er wird weiter gegen die Regulierung kämpfen und auf ihre Folgen aufmerksam machen.
Blickt man auf die Umfragen, hat Kosljuk viel Überzeugungsarbeit vor sich. Laut dem unabhängigen Meinungsforschungszentrum Lewada sehen rund 60 Prozent der Russen einen gewissen Grad an Internetzensur als notwendig an. Wie es scheint, loten Behörden jedes Jahr neu aus, wie weit diese Akzeptanz reicht. An Gesetzen mangelt es in Russland nicht.