Julia Engelmann bei Youtube: Befindlichkeiten in niedliche Reime gebracht
Das Internet ist doch immer wieder ein Ort der Zeichen und Wunder. Rätselhafte Ökonomie der Aufmerksamkeit: Am 7. Mai letzten Jahres fand der 5. Bielefelder Hörsaalslam statt, eine Veranstaltung im Audimax der dortigen Universität, bei der sich junge und sprachbegabte Menschen zu einem Dichterwettstreit trafen.
Die Veranstaltung wurde vom Campus TV Bielefeld aufgezeichnet und im Netz veröffentlicht. Keine allzu große Sache vorerst, Poetry Slams gibt es viele, auch die entsprechenden Videomitschnitte. Die deutschsprachige Slam-Szene gilt nach der englischsprachigen als die zweitgrößte der Welt.
Auch Julia Engelmann war in Bielefeld dabei, von der Bremer Psychologiestudentin steht seit Juli 2013 ein Video ihres Vortrags bei Youtube; im Laufe der letzten Monate wollten es immerhin über 300.000 Menschen sehen, eine stattliche Zahl.
Dann aber, nachdem der Blogger Kai Thrun am 11. Januar dieses Jahres auf das nicht einmal sechs Minuten lange Werk hingewiesen hatte, schossen die Klickzahlen innerhalb kürzester Zeit auf weit über zwei Millionen. Das Video machte die Runde über die sozialen Netzwerke, wer etwa einen Facebook-Account hat, dürfte an Engelmanns Reimen kaum vorbeigekommen sein.
Wie konnte das nur passieren? Poetry Slams sind Wettbewerbe oder, wie das Wort „Slam“ auch zu übersetzen wäre, Schlachten, bei denen nicht einfach nur Texte vorgetragen werden, sondern bei denen es vor allem auf die Art und Weise des Vortrags ankommt – und auf die Selbstinszenierung des oder der Vortragenden. Die zumeist jungen Textverfertiger kämpfen dabei um die Gunst des Publikums und müssen damit rechnen, recht gnadenlos von der Bühne gepfiffen zu werden. Wer allerdings gefällt, wird per Applaus in die nächste Runde weiter gereicht, bis zum Schluss ein Sieger feststeht.
Julia Engelmann konnte sich vor den über 1000 Zuschauern in Bielefeld ganz gut behaupten, ins Finale kamen indes andere. Die 24-Jährige gab sich zu Beginn schüchtern – so wie auch die auf sie folgende Wettbewerberin Annalouise Falk – und legte dann los mit einem einwandfreien Stück larmoyanter Befindlichkeitslyrik.
Das allerdings trug sie mit zunehmendem Selbstbewusstsein vor, über die Welt hatte sie dabei nichts zu erzählen, stattdessen hielt sie ihr Inneres für umso berichtenswerter. Kostprobe: „Ich denke zu viel nach, ich warte zu viel ab, ich nehm mir zu viel vor, und ich mach davon zu wenig.“
Engelmann sprach von den verpassten Chancen, dem Leben im Konjunktiv und davon, später einmal – „eines Tages, Baby, werden wir alt sein“ – nichts erlebt zu haben. Das tat sie rührend um die eigene Existenz besorgt und bemerkte, einmal in Rage, nicht den Widerspruch, zwar ein richtiges Leben in der großen weiten abenteuerlichen Welt führen zu wollen, doch über ihre unruhige Innerlichkeit dabei nicht hinauszukommen. Man kann das niedlich finden oder auch – im Land der Dichter und Denker mag dieser Hinweis erlaubt sein – mit Hegel ein „unglückliches Bewusstsein“ nennen, ein diffuses Unbehagen in der Kultur.
Mit anderen Worten: Diese Frau hat viel Grütze im Kopf. Das allerdings ist kein adoleszentes Alleinstellungsmerkmal. Wie die Klickzahlen zeigen, finden sich darin viele Menschen wieder. Engelmann trifft den Nerv der Zeit.