Klartraum-Forschung: Manche Menschen können ihre Träume steuern
Berlin - Ein kleines Straßencafé in Paris. Alles wirkt normal. „Was passiert eigentlich, wenn man an den physikalischen Gesetzen herumspielt?“, fragt die junge Frau ihren Begleiter. Plötzlich klappen die Straßenzüge um, die Autos fahren himmelwärts. Die Szene stammt aus dem Film „Inception“. In ihm sind Träume eine hyperreale Parallelwelt, die die Protagonisten selbst gestalten. Durch eine spezielle Technologie kann man sogar in die Traumwelten anderer eindringen und sie manipulieren. Das ist reine Science-Fiction. Aber einen gewissen Bezug zur Wirklichkeit gibt es dennoch.
„Dass Träume so real wirken können wie das Wachleben und man sie beeinflussen kann, stimmt tatsächlich“, sagt Simon Rausch, der Autor eines Klartraum-Praxishandbuchs ist. Der Mittzwanziger spricht dabei aus Erfahrung. Er ist, was man einen Klarträumer nennt. Sogenannte luzide Träume wurden lange in die esoterische Ecke geschoben. Das änderte sich erst um 1980, als der amerikanische Psychologe Stephen la Berge und der britische Psychologe Keith Hearne ihre Existenz durch gezielte Versuche nachwiesen.
Sex mit dem Traumpartner
„Es handelte sich um Schlaflaborstudien“, sagt der Neurowissenschaftler Martin Dresler, der an der Radboud Universität im niederländischen Nijmegen Denkprozesse untersucht, die im Schlaf ablaufen. „In diesen wurden die Probanden gebeten, ihre Augen beim Eintreten eines luziden Traums in schnellem Wechsel von rechts nach links zu bewegen.“ Dokumentiert wurden für den Schlaf ungewöhnlich systematische Bewegungsmuster. Sie bewiesen, dass die Testpersonen bei klarem Bewusstsein waren. Zugleich zeigten Messungen der elektrischen Aktivität des Gehirns und der Muskeln, dass sie schliefen. Verzeichnet wurden die Klarträume in der sogenannten REM-Schlafphase. In ihr träumt man am meisten. Folge sind schnelle unsystematische Augenbewegungen bei geschlossen Lidern.
Die Klartraum-Definition von Paul Tholey ist bis heute wegweisend. Ein Teil der Experten grenzt den Begriff aber weniger streng ab als er. „Ich denke man sollte Klarträume nicht nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip betrachten“, sagt der Neurowissenschaftler Martin Dresler aus Nijmegen. Erfahrungsberichte legten nahe, dass es mehrere Abstufungen des Klartraums gebe, in denen Traumeinsicht und Bewusstseinsklarheit zunehmend größer würden: angefangen vom Gefühl, dass das Geschehen irreal ist, über die sichere Erkenntnis, dass man träumt, bis zur kompletten Klarheit und Traumkontrolle.
Für einen voll-luziden Klarträumer fühlt sich die Traumwelt so real an, wie das Wachleben: „Wasser ist nass, Sonnenstrahlen erzeugen Wärme auf der Haut, ein Apfel schmeckt wie ein Apfel“, schildert Simon Rausch. Der Unterschied sei, dass man die Traumrealität frei gestalten könne und auch Übernatürliches möglich sei. „Man kann sich sein Lieblingsessen herbeiwünschen, mit dem Traumpartner Sex haben oder wie ein Vogel durch die Wolken fliegen“, sagt er.
„Tatsache ist, dass man das Klarträumen erlernen kann“, sagt die Psychologin Ursula Voss, die an der Universität Frankfurt am Main zu Schlaf und Traum forscht. Dazu brauche es den entsprechenden Willen und eventuell Durchhaltevermögen. „Eine Rolle spielt dabei das Alter. Je jünger Menschen sind, desto leichter fällt es ihnen oft, das Klarträumen zu erlernen“, sagt Ursula Voss. Auch scheinen einige per se größeres Klartraumpotential zu haben als andere. Was genau dieses Talent bedingt, ist noch unklar. Laut Studien, fällt es jedoch mit gewissen Charakterzügen und Eigenschaften zusammen, etwa mit einer ausgeprägten Vorstellungskraft und der Fähigkeit zur geistigen Vertiefung.
Zum Erlernen des Klarträumens gibt es verschiedene Techniken. Dazu gehören Klarheit erhaltende, für die das englische Kürzel „Wild“ (wake induced lucid dream) steht, und Klarheit gewinnende Techniken, genannt „Dild“ (dream induced lucid dream). „Wild“-Techniken zielen darauf ab, den luziden Traum direkt aus dem Wachzustand einzuleiten. „Kurz gesagt versucht man dazu, beim Einschlafen bei klarem Bewusstsein zu bleiben“, sagt Simon Rausch. Möglich sei das etwa, indem man den Körper durch Entspannungsübungen in Schlafstarre bringt und den Geist durch kleine Tätigkeiten, wie das stille Rezitieren eines Mantras, aktiv hält. „Wenn das klappt, ist die Chance, dass man geistig klar bleibt, gut.“
„Dild“-Techniken sollen Trübtraume zu Klarträumen werden lassen. Dafür muss der Träumende erkennen, dass er träumt. Dazu hilft es, sich intensiv mit seiner Traumwelt zu beschäftigen, indem man etwa Traumtagebuch führt. So lassen sich wiederkehrende Elemente identifizieren, die einen Traum als Traum „entlarven“. Daneben wird die Reflexionsmethode empfohlen. „Bei dieser fragt man sich konsequent mehrmals täglich, ob man wach ist oder träumt“, erklärt Martin Dresler. Dabei helfen Reality-Checks, etwa der Versuch, durch die zugehaltene Nase zu atmen, was im Wachzustand unmöglich, im Traum aber möglich ist.
Neurowissenschaftliche Studien haben ergeben, dass die Gehirn-Aktivität bei Luzidträumen nicht dieselbe ist wie bei normalen Träumen. Eine der ersten Schlaflabor-Studien wurde 2009 von einem Team um die Frankfurter Traumforscherin Ursula Voss durchgeführt. In den Hirnstrommustern von Probanden stellten die Forscher während des Klarträumens vermehrt wachähnliche Frequenzen fest, insbesondere Gammawellen. Diese konzentrierten sich auf gewisse Areale.
„Es ist, als wäre ein Teil des Gehirns plötzlich etwas wacher, während der Rest weiterschläft“, sagt die Traumforscherin. Am stärksten betroffen sei das Stirnhirn, und zwar speziell eine Region, die dorsolateraler präfrontaler Cortex heißt. Da das Stirnhirnareal für die kritische Bewertung von Ereignissen zuständig ist, könnte seine erhöhte Aktivierung erklären, warum Klarträumer das Traumgeschehen durchblicken.
Inzwischen hat man durch funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) weitere Hirngebiete identifiziert, deren Aktivität sich bei Klar- und Trübträumen unterscheidet. „Eines davon ist der Precuneus, der innere Teil des Scheitellappens“, sagt Martin Dresler, der 2012 in einer Studie die Hirn-Aktivierungsmuster bei Klarträumen untersuchte. Der Precuneus werde vor allem mit Selbstreflexion assoziert. „Seine Aktivierung ist naheliegend, da ein luzider Traum per Definition das Nachdenken über sich selbst und seinen Bewusstseinszustand beinhaltet.“
Mehr graue Substanz
Neben der für den Schlafzustand ungewöhnlichen Aktivierung einzelner Bereiche, zeigten Untersuchungen eine erhöhte Synchronisierung des Gehirns: Areale, deren Interaktion im Schlaf sonst eher gering ist, arbeiten während des Klarträumens koordinierter zusammen. Zudem finden sich hirnphysiologische Besonderheiten. So haben Klarträumer im vorderen Stirnhirn vermehrt graue Substanz. Also jene Zellen, in denen sich mentale Verrechnungsprozesse abspielen.
Ein großer Teil der Klarträumer setzt seine Fähigkeit nur ein, um Spaß zu haben und sich Wünsche zu erfüllen, die im Wachzustand unmöglich sind. „Ihre Traumrealität ist wie ein großer Spielplatz für sie, den sie einfach genießen“, sagt Simon Rausch. Einige nutzen ihre Traumzeit aber auch sinnvoll. So gibt es Sportler, die virtuelle Trainingseinheiten in ihr absolvieren, was sie – wie Studien bestätigen – leistungsstärker machen kann. Kreative und Künstler finden Inspiration und Lösungen für schöpferische Probleme im Traumerleben.
Daneben kann man Klarträumen therapeutisch einsetzen. Es ist zum Beispiel erwiesen, dass es chronische Albträume beenden kann, wenn man sie luzide erlebt. Die Erkenntnis, dass sie nicht real sind, nimmt ihnen den Schrecken. Phobien können bekämpft werden, indem man dem, was man fürchtet, im Klartraum entgegentritt. Und eventuell sind luzide Träume auch für die Psychose-Behandlung interessant.
„Traum und Wahn werden schon lange als verwandte Zustände diskutiert“, sagt Martin Dresler. Grund ist die Surrealität und assoziative Denkweise, die sie auszeichnet. Aber auch, dass Trübträumer wie Psychotiker außer Stande sind, einen Realitätsabgleich zu machen und ihren Geisteszustand zu durchblicken. Diese Fähigkeit ist wichtig für den Therapieerfolg bei Psychosen. Klarträumer haben sie. „Dazu kommt, dass sich genau die Hirnareale, die bei ihnen verstärkt aktiviert werden, bei Psychosepatienten als beeinträchtigt erwiesen haben.“ Dies legt nahe, dass Techniken, die Klarträume fördern, auch die Krankheitseinsicht von Wahnerkrankten bessern könnten. Ob das wirklich so ist, müssen Studien zeigen.