Komplementäre Therapie: Wie Berührungen gegen Krankheiten helfen
Berühren heißt nicht einfach nur anfassen. Es kann auch die Seele anrühren. Eine Hand auf der unseren beruhigt, ein Streicheln tröstet, eine Umarmung ermutigt. Auf die Idee, Berührungen als Therapie gegen psychische Krankheiten einzusetzen, kam Bruno Müller-Oerlinghausen durch ein persönliches Erlebnis.
Er betreute damals bereits seit vielen Jahren depressive Patienten an der Freien Universität (FU) Berlin, wo er an der Psychiatrischen Klinik eine Spezialambulanz leitete. In einer Zeit, die für ihn selbst schwierig war, probierte er eine Shiatsu-Massage aus, eine sanfte manuelle Therapie aus Japan. „Ich war verblüfft, wie sehr mir das geholfen hat“, sagt der Klinische Pharmakologe, der ja eigentlich Spezialist für Arzneimittel ist. Damals sei ihm jedoch bereits klar gewesen, dass die Behandlung mit Medikamenten und Psychotherapie ihre Grenzen hat. „Ich dachte also: Vielleicht wären spezielle Massagen auch etwas für meine Patienten.“
Technik ist kein Ersatz für menschliche Berührungen
Das ist mehr als 15 Jahre her. Müller-Oerlinghausen ist mittlerweile emeritiert und sitzt in seinem kleinen Büro nahe dem Schloss Bellevue mit Blick über Berlin. Das Thema Berührung findet er wichtiger denn je, denn wir leben heute in einer Welt, in der wir zum Kommunizieren, Shoppen oder Spielen immer öfter ins Internet gehen statt unter Menschen. Einen herzlichen Händedruck, den Arm um die Schulter, einen Kuss – das gibt es dort nicht.
Eine Umfrage ergab einmal, dass sich jeder dritte Deutsche wünscht, öfter umarmt zu werden. Die obige Grafik zeigt, dass der Wunsch nach Berührungen natürlich auch davon abhängt, wer einem begegnet. Doch viele streicheln sogar ihren Partner weniger als ihr Smartphone. „Das wohlige Gefühl einer menschlichen Berührung kann man nicht ersetzen“, sagt Müller-Oerlinghausen. Es sei bislang nicht durch ein technisches Medium zu vermitteln. Mit der Körpertherapeutin Gabriele Mariell Kiebgis hat er ein Buch geschrieben. Der Titel: „Berührung. Warum wir sie brauchen und wie sie uns heilt.“
Studie belegt Wirksamkeit von Massagen
Ende der 90er-Jahre entwickelte Müller-Oerlinghausen eine Massagetechnik, die auf psychische Effekte abzielt. Die Slow-Stroke-Massage („Langsamer Strich“) arbeitet mit sanften langsamen Ausstreichungen, die nicht so sehr Muskeln und Bindegewebe, sondern vielmehr die Haut und die oberflächliche Faszie erreichen sollen.
Sein Vorhaben, die Behandlung als komplementäre Therapie gegen Depressionen einzusetzen, musste er damals in der Klinik erst einmal durchsetzen. „Mit diesem Thema landet man schnell in der Esoterik-Ecke “, sagt er. Es sei ihm deshalb wichtig gewesen, die Wirksamkeit auch wissenschaftlich nachzuweisen. 2002 veröffentlichte er eine erste Studie, an der 32 stationäre Patienten mit mittelschweren bis schweren Depressionen teilnahmen. Eine Gruppe wurde fünfmal innerhalb von fünf Wochen massiert. Daneben gab es eine Kontrollgruppe, die mit derselben Masseurin Entspannungsübungen machte, jedoch nicht von ihr berührt wurde.
„Wir hatten vorher große Bedenken, ob die depressiven Patienten das durchhalten würden“, sagt Müller-Oerlinghausen. Nackt ausziehen, eine Stunde still liegen und sich von einer fremden Frau anfassen lassen. Doch keiner der Teilnehmer brach die Studie ab. Die depressive Stimmung der Patienten nahm akut ab, Angstgefühle und Anspannung wurden gelindert.
Der Tastsinn lässt sich nie abstellen
Wie kann das sein, wenn depressive Patienten doch typischerweise an einer Gefühlslosigkeit leiden und unfähig sind, auch nur irgendetwas als schön zu empfinden. „Die Depression ist nicht nur eine Gemütskrankheit“, sagt der Pharmakologe. „Sie befällt den ganzen Körper.“ Bei seinen Patienten, die er teilweise über viele Jahre begleitet hat, beobachtete er eine Fülle körperlicher Symptome. Kühle Haut, verkrampfte Finger und Zehen, Bauch- und Kopfschmerzen, Nackenverspannungen. „Es ist deshalb nur logisch, dass man die Krankheit auch über den Körper beeinflussen kann“, sagt er. „Über Berührungen kann ich die Sinne wiederbeleben, Gefühle wieder entstehen lassen.“
Eine wichtige Rolle spielt dabei das Körpergedächtnis. Erinnerungen an gute und schlechte Berührungen sind in unseren Zellen gespeichert und können wieder aktiviert werden.
Der Tastsinn ist der erste Sinn, der sich im Mutterleib entwickelt. Aus dem winzigen Zellhaufen, der wir am Anfang sind, entsteht sehr schnell so etwas wie eine Haut. Ein Kommunikationsorgan, das Informationen von außen nach innen leitet. Schon ein fünf Tage alter Embryo reagiert auf Berührungen an Nase und Lippen. Über die Haut entsteht unser Ich-Bewusstsein. Der Tastsinn lässt sich nie abstellen. Wir fühlen 24 Stunden am Tag.
Wohlfühl-Geschwindigkeit von drei Zentimetern pro Sekunde
Die psychoaktiven Massagen stimulieren gezielt ganz bestimmte Nervenfasern: das C-taktile-Nervennetz. Es ist einzig und allein dazu da, uns ein Wohlgefühl spüren zu lassen. Erst vor etwa zwanzig Jahren wurden diese Nervenfasern von schwedischen Wissenschaftlern beim Menschen nachgewiesen. Tiere wie Krokodile oder Eidechsen haben sie nicht. Während es in der Haut Sensoren gibt, die zum Beispiel auf Wärme oder Schmerz reagieren, feuern die C-Nervenzellen nur, wenn sie von sanften, rhythmischen Bewegungen stimuliert werden.
Neurowissenschaftler ließen im Labor einen mechanischen Pinsel unterschiedlich schnell über den Unterarm von Kindern streichen. Die Kinder sagten, wann sich das für sie am schönsten anfühlte. Das Ergebnis: vor allem bei einer Geschwindigkeit von drei Zentimetern pro Sekunde. Auch eine Katze beginnt zu schnurren, wenn man sie in diesem Rhythmus krault.
Mittlerweile gibt es weitere Untersuchungen, die zeigen konnten, dass Massagen Depressivität und Angst lindern. Zum Beispiel bei chronischen Schmerzen, Traumatisierungen oder auch in der Schwangerschaft. Wiederholt wurde dabei gezeigt, dass die Konzentration des Stresshormons Cortisol im Speichel sinkt und die des Wohlfühl-Hormons Oxytocin steigt.
Wirkung auch bei Krebs
Forscher der Berliner Charité haben das auch bei Frauen mit Brustkrebs untersucht. Sie teilten 34 Patientinnen in zwei gleich große Gruppen auf: Nur eine erhielt zweimal pro Woche eine 30-minütige klassische Massage. Verglichen mit der Kontrollgruppe, die nicht massiert wurde, berichteten diese Frauen über weniger Anspannung, Angst und dunkle Stimmung. Diese Effekte traten vor allem dann ein, wenn sie während dieser zehn Wochen nicht von verschiedenen, sondern immer von derselben Masseurin behandelt wurden.
Die Krankenkassen bezahlen die psychoaktiven Massagen in der Regel nicht. Im Gegensatz zu anderen Bereichen der medizinischen und psychologischen Forschung ist die Zahl hochwertiger Studien nach wie vor gering. Auch in Berlin ist es schwierig, einen Physiotherapeuten zu finden, der ein Zertifikat für die Ausbildung in genau dieser Massagetechnik besitzt.
Viele Medizinstudenten, sagt Müller-Oerlinghausen, meldeten sich bei ihm, weil sie sich dem Thema der heilsamen Wirkung von Berührungen im Rahmen einer Doktorarbeit widmen wollten. „Leider gibt es derzeit in Deutschland kein Forschungsinstitut, das sich mit den Grundlagen von Massage beschäftigt.“ Er hofft, dass sich das in Zukunft ändert.
Bruno Müller-Oerlinghausen, Gabriele Mariell Kiebgis: Berührung. Warum wir sie brauchen und wie sie uns heilt. Ullstein Leben, 2018, 288 Seiten, 18 Euro.