Lange Nacht der Wissenschaften 2014: Trance gegen die Angst

Die Stimme des Therapeuten ist ruhig und angenehm, aber bestimmt: „Schließen Sie die Augen und atmen Sie tief ein und aus – bis in den Bauch“, sagt Enrico Markgraf. Vor ihm hat sich eine Patientin auf einem Liegesessel ausgestreckt und folgt seinen Anweisungen. Ursula Noczinski, 62 Jahre, hat einen mehrstündigen Eingriff zur Stabilisierung der Wirbelsäule hinter sich. Vor der Operation waren die Schmerzen nahezu unerträglich. Auch jetzt ist es noch lange nicht wieder gut. Von der Hypnosesitzung mit Markgraf erhofft sie sich ein wenig Linderung.

„Rund um die Augen gibt es ganz viele kleine Muskeln. Versuchen Sie, jeden dieser kleinen Muskeln zu entspannen“, sagt er. Ursula Noczinski kennt das Prozedere einer Hypnosesitzung, denn sie ist Probandin der Hypnoc-Studie an der Charité-Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin in Mitte. Das Team um Klinikleiterin Claudia Spies und Assistenzarzt Friedrich Borchers hat vor zwei Jahren zusammen mit drei versierten Therapeuten zu prüfen begonnen, ob Hypnose-Therapie Patienten hilft, einen großen chirurgischen Eingriff am Rücken oder Herzen zu verkraften. Dabei geht es nicht um die körperliche Verfassung, sondern die geistige – um das Gedächtnis und andere kognitive Fähigkeiten.

Angst vor dem Eingriff

„Bei großen chirurgischen Maßnahmen besteht grundsätzlich die Gefahr, dass sich eine postoperative kognitive Dysfunktion entwickelt. Die Patienten haben nach der Operation plötzlich Probleme, sich etwas zu merken oder sich zu orientieren“, sagt Borchers. Jeder hat von diesem Phänomen wohl schon gehört: Jemand kommt aus dem Krankenhaus – und „ist nicht mehr der Alte“, wie es oft heißt. Monate oder sogar Jahre kann dieser Zustand anhalten.

Die Störung wird vermutlich ausgelöst durch eine Reihe von Einflüssen rund um eine Operation: Die Patienten erhalten Narkose-, Schmerz- und Schlafmittel, der ganze Klinikaufenthalt ist für sie ungewohnt und potenziell bedrohlich. Hinzu kommt die häufig große Angst vor dem Eingriff. „Die postoperative kognitive Dysfunktion zeichnet sich meist früh ab in Form eines Delirs, also geistiger Verwirrtheit. Die Patienten schaffen es nicht, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden“, sagt Borchers. Sie werden unruhig und wollen raus aus dem Krankenbett. Vor allem bei älteren Patienten kommt es gar nicht so selten zum Delir.

Die Hoffnung der Ärzte um Spies und Borchers ist, dass eine Hypnosetherapie den Patienten hilft, sich vor der Verwirrung zu schützen und sich vom stressigen Klinikgeschehen abzuschirmen. Immerhin hat sich die Hypnose in anderen Studien bereits als wirksam erwiesen, um Angst und Schmerzen zu reduzieren.

Verändertes Bewusstsein

An 120 Patienten soll nun überprüft werden, ob die Hypnose dabei helfen kann, eine große Operation gut zu überstehen. Bisher haben sich gut 60 Probanden gefunden. Nicht jeder ist daran interessiert. „Wir sprechen die Patienten erst am Tag vor der Operation an, wenn sie bereits auf der Station sind“, sagt Borchers. Manche haben dann so viele andere Sorgen, dass sie nicht auch noch Hypnose-Behandlungen mitmachen möchten. Andere sehen die Form der Therapie ohnehin mit Skepsis und lehnen ab. „Einige Patienten jedoch machen mit großer Begeisterung mit“, berichtet Borchers.

Drei jeweils 45-minütige Hypnose-Sitzungen gehören zum Studienprogramm – eine am Abend vor der OP, zwei weitere während des Klinikaufenthalts danach. Darüber hinaus werden den Probanden Aufgaben gestellt, um ihr Gedächtnis zu testen. Die kognitiven Tests erfolgen kurz vor und kurz nach der OP sowie noch einmal drei Monate später. Eine Vergleichsgruppe von Operierten macht auch die Gedächtnistests, erhält aber keine Hypnosetherapie. So wollen die Mediziner herausfinden, ob Hypnose einen Effekt hat.

Hypnose ist seit 2006 in Deutschland offiziell anerkannt als wissenschaftlich fundierte psychotherapeutische Methode. Ziel einer Hypnosetherapie ist es, einen Trancezustand zu erreichen. Dabei ist das Bewusstsein verändert: Der Körper entspannt sich, der Geist fokussiert sich auf eine bestimmte Aufgabe oder ein Thema.

Schwerelos, wie ferngesteuert

„Trance fühlt sich so ähnlich an, wie der Moment kurz vor dem Einschlafen, wenn man gerade noch wach ist“, sagt Markgraf. Allerdings ist diese Therapie nicht für jeden Menschen gleich gut geeignet. Man muss trancefähig sein, suggestibel, nennt es Enrico Markgraf. „Grundsätzlich ist jeder Mensch hypnotisierbar, allerdings nicht gegen seinen Willen“, sagt er.

Rückenpatientin Ursula Noczinski fällt es leicht, ihren Körper zu entspannen und ihren Geist zu fokussieren. Sie liegt auf dem Sessel, hat die Augen geschlossen und atmet tief ein und aus. Auf Anweisung von Enrico Markgraf stellt sie sich vor, sie habe ein leeres Kissen unter dem rechten Arm, das sich nach und nach mit Luft füllt. Leicht und langsam wandert ihr Arm nach oben.

Nach der Sitzung wird sie berichten, dass das nicht anstrengend war, sondern sich schwerelos und wie ferngesteuert anfühlte. „Levitation“ nennen Hypnosetherapeuten die Technik. „Es handelt sich dabei um eine vom Gehirn unbewusst gesteuerte, sogenannte ideomotorische Bewegung“, sagt Markgraf. Therapeuten nutzen sie, um die Trance zu vertiefen oder auch um zu überprüfen, ob ihr Klient auf sie anspricht.

Weniger Schmerzen

Ursula Noczinski darf nach einer Weile den Arm wieder sinken lassen. Danach soll sie sich vorstellen, ein Wärmekissen unter der Lendenwirbelsäule zu haben. Angenehm warm soll es sein, wohltuend. Es funktioniert. Die Patientin spürt die Wärme.

Die nächste Stufe: Markgraf lässt seine Klientin im Geiste ihren Hund am Rücken streicheln und kraulen. „Ihr Hund mag das. Sie fühlen, wie er sich entspannt“, sagt Markgraf. Mit diesem Bild setzt er einen Hypnose-Anker. Die hypnotische Wirkung wird verbunden mit einer bestimmten Situation. Bestenfalls wird sich bei seiner Patientin künftig immer dann das entspannte Trancegefühl wieder einstellen, wenn sie ihren Hund am Rücken streichelt.

Am Ende der Sitzung holt Markgraf seine Patientin langsam von eins bis drei zählend zurück. „Es hat gut getan“, sagt Ursula Noczinski. Ihre Schmerzen sind ein wenig schwächer geworden im Laufe der Sitzung. Zu Beginn stufte sie die Schmerzen auf einer Skala von 0 (schmerzfrei) bis 10 (unerträglich) bei 7 bis 8 ein. Nach der Sitzung ist sie bei 6. Ein kleiner Erfolg.

Drei Monate nach der Operation wird sie noch mal zur Charité kommen, zum abschließenden Gedächtnistest. Schon jetzt ist absehbar, dass sie den Test mit Bravour absolvieren wird. Von postoperativer kognitiver Dysfunktion scheint sie nicht betroffen zu sein. Die 62-Jährige wirkt keine Spur verwirrt, vergesslich oder desorientiert.

War sie ohnehin nicht gefährdet? Oder hat die Hypnose geholfen? Vielleicht auch nur die damit verbundene intensive tägliche Betreuung in der Klinik? Derlei Fragen werden die Mediziner um Spies und Borchers erst beantworten können, wenn die Studie ausgewertet ist. Eines ist jetzt schon klar, sagt Borchers: „Es ist auf jeden Fall eine Bereicherung für meine Arbeit auf der Intensivstation, den Patienten Möglichkeiten an die Hand geben zu können, sich selbst zu helfen.“

Hypnose in der Wissenschaft: Hypnosetherapie und ihre Anwendung in der Begleitung vor und nach großen Operationen. Besucher können selbst einen hypnotischen Zustand erleben und die Tiefe der Trance spüren. Demonstration und Mitmachgelegenheit: 17.30, 19.30 und 21.30 Uhr. Ab 18 Jahre. Campus Charité Mitte, Anmeldung und Treffpunkt Charité CrossOver-Gebäude, Campusadresse Virchowweg 6.