Nationale Kohorte, Gesundheit, Studie, Deutschland

Berlin - Einige Tausend Berliner finden in diesen Tagen in ihrem Briefkasten ein Schreiben vor, das sie zu einer ausführlichen medizinischen Untersuchung und Gesundheitsbefragung einlädt. Es ist jedoch nicht der Hausarzt, der an den jährlichen Check-up erinnert. Absender sind die Organisatoren der Nationalen Kohorte. Sie suchen Freiwillige für die größte Gesundheitsstudie, die es je in Deutschland gab. Bundesweit sollen 200.000 Menschen zwischen 20 und 69 Jahren untersucht werden, einige von ihnen will man Jahrzehnte im Blick behalten.

Ein medizinisches Mammutvorhaben. Finanziert wird es vom Bundesforschungsministerium, von der Helmholtz-Gemeinschaft und von den Ländern. Für die kommenden zehn Jahre ist ein Budget von 210 Millionen Euro vorgesehen. Fünf Jahre lang haben Forscher das Projekt vorbereitet. Nun geht es los.

Ob jemand dazu eingeladen wird oder nicht, hat nichts mit der gesundheitlichen Verfassung zu tun. „Wir bitten die Einwohnermeldeämter um eine Zufallsauswahl im Altersspektrum der 20- bis 69-Jährigen und gehen davon aus, dass sowohl Gesunde als auch Kranke dabei sind“, sagt Tobias Pischon vom Max-Delbrück-Centrum in Berlin-Buch. Der Mediziner und Epidemiologe ist Sprecher des Clusters Berlin-Brandenburg der Nationalen Kohorte.

Neue Risikofaktoren finden

Eine Kohortenstudie, auch Bevölkerungs- oder Längsschnittstudie genannt, ist eine Fleißaufgabe und Geduldsprobe zugleich. Denn dabei geht es darum, einen möglichst großen und repräsentativen Ausschnitt der Bevölkerung zu untersuchen und möglichst lange zu beobachten – in diesem Fall über einen Zeitraum von etwa 30 Jahren. „So können wir zuverlässig herausfinden, welche Faktoren zu Erkrankungen führen“, sagt Pischon. Dazu ermittelt man zunächst den Status quo, beobachtet anschließend, wer erkrankt, und wer gesundbleibt, und analysiert die Einflussfaktoren. Ein Gesundheitssurvey dagegen, wie etwa das Robert-Koch-Institut ihn vornimmt, ist auch repräsentativ, zeigt aber nur eine Momentaufnahme.

18 Studienzentren gibt es bundesweit für die Nationale Kohorte, drei davon in Berlin. „Wir wollen in den kommenden fünf Jahren im Raum Berlin-Brandenburg 30 000 Studienteilnehmer gewinnen. Damit sind wir deutschlandweit die Region mit den meisten Probanden“, sagt Pischon. Bei der Nationalen Kohorte geht es um häufige chronische Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Leiden, Diabetes, Krebs, Atemwegserkrankungen und Allergien. „Unser Ziel ist es, Risikofaktoren zu identifizieren und neue Wege zur Früherkennung und Behandlung zu finden“, sagt Pischon.

Moderne medizinische Labormethoden sollen dabei helfen. „Es werden sogenannte Hochdurchsatzverfahren zum Einsatz kommen, bei denen nicht nach einzelnen Substanzen im Blut gefahndet wird, sondern im großen Stil nach Substanzgruppen“, erläutert Pischon. Betrachten die Forscher zum Beispiel sämtliche Proteine oder Stoffwechselprodukte im Blut wie bei einem Fingerabdruck, könnten sich ganz neue Substanzen als frühe Indikatoren bestimmter Krankheiten erweisen. „Indem wir die Probanden noch besser charakterisieren, wird eine Art personalisierte Prävention möglich, und wir können später einmal gezielter Empfehlungen abgeben“, sagt Pischon.

Freiwillige Teilnahme

Darüber hinaus hoffen die Forscher, mit der Mammutstudie fundierte Antworten auf Fragen zu finden, die sich bisher nur vage beantworten lassen. Etwa zum Thema Sport: „Wir wissen, dass körperliche Aktivität vor einer Reihe von Erkrankungen schützt – etwa vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Krebs. Aber Details dazu kennen wir nicht“, sagt Pischon. Wie viel man sich bewegen sollte, welche Art von Sport zu bevorzugen ist, welche Intensität am gesündesten ist – all das ist unklar. „Die bisherigen Erkenntnisse über den Nutzen körperlicher Bewegungen stammen zumeist aus Kohortenstudien, in denen lediglich Fragebögen eingesetzt wurden“, sagt Pischon. Die Nationale Kohorte erfasse nun direkt die Bewegung mithilfe von tragbaren Messgeräten, Akzelerometer genannt. Jeweils eine Woche lang messen die Geräte die Aktivität.

Die Teilnahme an der Studie ist freiwillig. Reich wird man dabei gewiss nicht: Den Probanden wird lediglich eine Aufwandsentschädigung von zehn Euro sowie ein Imbiss im Studienzentrum geboten. Wer mitmacht, sollte also eher daran interessiert sein, zum wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn beizutragen. Etwas Nutzwert ist dennoch gegeben: „Die Probanden bekommen die Ergebnisse der Blutuntersuchung zugeschickt. Außerdem informieren wir sie mit einem Newsletter regelmäßig über neue generelle Erkenntnisse, die die Studie ergeben hat“, sagt Pischon.

Alle 200.000 Probanden in Deutschland durchlaufen in den kommenden fünf Jahren eine Basisuntersuchung. Dabei werden sie nach ihren Lebensgewohnheiten befragt – etwa nach der körperlichen Aktivität, ob sie rauchen, wie sie sich ernähren, welchen Beruf sie haben. Außerdem findet eine medizinische Untersuchung statt: Blutproben werden entnommen und für spätere Forschungsprojekte anonymisiert in Biobanken gelagert. Körpergröße, Körpergewicht, Körperfettverteilung, Blutdruck, Herzfrequenz und vieles mehr werden gemessen. Knapp drei Stunden dauert das.

Ein kleiner Teil der Probanden wird noch ausführlicher im Magnetresonanztomografen untersucht. Die Berliner Ultrahochfeld-Anlage des MDC auf dem Campus Berlin-Buch hat dafür eigens einen Magnetresonanztomografen erhalten mit einer Feldstärke von 3 Tesla. Täglich sechs bis acht Probanden der Nationalen Kohorte werden darin in den nächsten Jahren am ganzen Körper „durchleuchtet“ – insgesamt 6 000. Dabei werden mithilfe von Magnetfeldern hochaufgelöste Bilder des Körpers erzeugt. Dazu sind weder Röntgenstrahlung noch Kontrastmittel nötig.

Überraschungen in der Röhre

Gerade bei dieser intensiven Untersuchung könnte es vorkommen, dass bei den Teilnehmern etwas entdeckt wird, von dem sie nichts wussten. In welchen Fällen sollte so etwas dem Patienten mitgeteilt werden und wann ist es besser, ihn nicht unnötig zu verunsichern? Die Planer der Kohorte haben dafür eine Liste erstellt. „Wenn beim MRT an der Hauptschlagader ein Riss entdeckt wird, würde der Proband sofort kontaktiert werden, denn so etwas kann lebensgefährlich sein“, sagt Pischon.

Über eine Verschattung der Lunge, die auf einen Tumor hindeuten könnte, würde der Teilnehmer etwas später per Post erfahren – mit dem Rat, den Befund abklären zu lassen. „Wenn man hingegen im Gehirn Anzeichen dafür entdeckt, dass der Proband schon vor längerer Zeit einen Schlaganfall hatte, würde man darüber nicht informieren. Denn aus vielen Untersuchungsergebnissen lassen sich keine akuten Behandlungsmaßnahmen ableiten“, sagt der Forscher.

Fünf Jahre nach der Erstuntersuchung steht eine zweite Untersuchung auf dem Plan. Wenn diese abgeschlossen ist, also im Jahr 2020 oder 2022, können die Forscher erste echte Ergebnisse aus ihrem Datenschatz herausfiltern. „Dann lässt sich zum Beispiel analysieren, ob bestimmte Basisdaten – etwa zur Bewegung oder zum Gewicht – mit dem Auftreten der jeweiligen Erkrankungen verbunden sind“, sagt Pischon. Erste spannende Ergebnisse erwartet er bereits 2018, wenn die Basisuntersuchung abgeschlossen ist. Zwar wird es nur eine Momentaufnahme der Gesundheit der Deutschen sein – aber eine mit so vielen Details wie nie zuvor.