Psychologie zu Tod und Sex: Todesfurcht macht uns empfänglich für Erotik

Es geschah im Warschauer Ghetto, am 21. Januar 1940, um die Mittagszeit. „Auf dem Hof sah ich mehrere Nachbarn, etwa acht oder zehn an der Zahl. Sie gestikulierten lebhaft. Etwas musste geschehen sein …“ Den Grund für die Aufregung soll der 19-jährige Erzähler wenig später erfahren: Der Herr Langnas, ein aus Lodz geflohener Kaufmann, hat sich erhängt. In die Wohnung der Familie Langnas eilend, findet der Erzähler die Tochter des Suizidenten in Tränen aufgelöst, und da erinnert er sich an den Auftrag seiner Mutter: „Kümmere dich um das Mädchen.“ Er nimmt die Aufgabe fürwahr ernst. „Ich war mir der Dramatik des Augenblicks bewusst, aber mir fiel nichts anderes ein, als den Kopf der Verzweifelten zu streicheln und ihre Tränen zu küssen.“ Dabei bleibt es nicht. „Ich fasste sie plötzlich an, griff zitternd nach ihrer Brust. Sie zuckte zusammen, aber sie sträubte sich nicht.“ So also habe er seine Frau Teofila kennengelernt, berichtet der 2013 verstorbene Marcel Reich-Ranicki in seiner Autobiografie „Mein Leben“.

Ein befremdliches Verhalten, das fand auch der Autor selbst. Mutig, dass er die Anekdote dennoch nicht verschwiegen oder retuschiert hat. Sicher ist es weder üblich noch galant, einer Trauernden an die Brust zu fassen. Doch auch wer sich mit Recht einen solchen Übergriff verbittet, wird vielleicht den Impuls, aus dem er entstand, nachvollziehen können. Denn wer kann nicht aus eigener Erfahrung bestätigen, wie hungrig wir im Angesicht des Todes das Leben umarmen – und einander.

Zwischen Tod und Sex gibt es in unserer Erlebniswelt eine merkwürdige Verbindung. Schon seit Langem stößt die psychologische Forschung immer wieder auf deren Spuren. Im Jahr 1975 bat Louis Dickstein vom Wellesley College bei Boston 185 weibliche Versuchspersonen darum, eine Reihe von Bildern zu beschreiben, die vieldeutige zwischenmenschliche Szenen darstellten. Gleichzeitig beantworteten die Frauen einen Fragebogen, der erfassen sollte, wie stark sich jede von ihnen vor dem Tod ängstigte. Wie sich herausstellte, gaben die Teilnehmerinnen den dargestellten Bildszenen umso häufiger eine sexuelle Deutung (inklusive „anzüglicher“ oder gar strafbarer Praktiken), je mehr Sorgen sie sich um den Tod machten.

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Die israelische Psychologin Orit Taubman-Ben-Ari von der Bar-Ilan-University stellte im Jahr 2004 fest, dass ihre Probandinnen und Probanden – zumindest gedanklich – zu riskanteren Sexpraktiken tendierten, sobald sie diese an ihre Sterblichkeit erinnert hatte. Prompt fand dann eine größere Zahl von potenziellen Sexualpartnern das Interesse der Versuchsteilnehmer, und sie plädierten häufiger zum Beispiel für Sex beim ersten Date, Sex ohne Kondom oder Sex mit mehreren Gespielinnen und Gespielen.

Konfrontation mit dem Tod führt zu Sehnsucht nach Erotik

Vom Gedanken an den Tod führt also ein irgendwie gearteter assoziativer Pfad zu Sexualität und Verlangen. Vielleicht deshalb, weil beides elementare Prinzipien sind, die unser Leben bestimmen und uns an die „kreatürliche sterbliche Natur“ unserer Existenz erinnern, wie die Sozialpsychologin Jamie Lynn Goldenberg von der University of South Florida meint. Selbst bei Zeitgenossen, die erotischen Abenteuern im realen Leben eher reserviert gegenüberstehen, ist die assoziative Verbindung von Tod und Sex aktiv. Das hat der Kommunikationsforscher Laramie Taylor von der University of California in Davis unlängst in einem Experiment nachgewiesen.

Per Zufall wurden 76 Studentinnen und 34 Studenten in zwei Gruppen aufgeteilt. Die einen dienten als Vergleichspersonen und beantworteten einen Allerweltsfragebogen. Bei den anderen hingegen ging es zur Sache. „Was denken Sie“, so wurden sie gefragt, „wird mit Ihnen geschehen, wenn Sie sterben und sobald Sie physisch tot sind?“ Und als ob das nicht genügte, wurde auch noch nachgehakt: „Bitte beschreiben Sie die Gefühle, die der Gedanke an Ihren eigenen Tod in Ihnen wachruft.“

Anschließend erhielten alle Teilnehmer eine Liste mit sämtlichen Sendungen, die zur Hauptsendezeit und im Nachtprogramm der sechs größten amerikanischen TV-Sender regelmäßig liefen. Für jede dieser Serien oder Shows sollten sie markieren, wie gern sie diese jetzt sehen würden. Eine Jury hatte jedes der Formate zuvor nach dem Anteil sexueller Inhalte taxiert, sodass die Forscher für jeden Probanden einen Summenwert erhielten, der sein momentanes Interesse an erotisch angereicherten Fernsehsendungen ausdrückte.

Das Ergebnis bestätigte den Verdacht: Jene Versuchsteilnehmer, die mit dem Gedanken an den Tod konfrontiert worden waren, hatten hernach einen stärkeren Hang zu TV-Sendungen mit erotischem Einschlag. Und erstaunlicherweise galt das auch für die sexuell zurückhaltenderen unter den Probanden. Denn alle waren von dem Forscher, dessen Neugier keine Grenze kannte, auch nach ihrem Liebesleben befragt worden. Also erstens: Mit wie vielen Partnern hatten Sie im vergangenen Jahr Sex?

Zweitens: Wie viele Sexpartner hatten Sie bislang überhaupt? Und drittens: Mit wie vielen Partnern gedenken Sie in den kommenden fünf Jahren Sex zu haben? Die Datenanalyse belegte, dass es selbst die Mauerblümchen und Tugendhaften unter den Teilnehmern beim Gedanken an den Tod stärker zu TV-Sendungen hinzog, in denen Sex eine Rolle spielte.

TV-Serien wie „Sex and the City“ machen es vor

Doch lag das wirklich spezifisch an den Todesgedanken? Oder dient Sex bloß ganz allgemein als Ablenkung von jederart unangenehmen Empfindungen? Dieser Frage ging Taylor in seinem zweiten Experiment nach. Diesmal musste ein Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht über den Tod, sondern über eine Zeit in ihrem Leben nachdenken, in der sie von starken körperlichen Schmerzen gepeinigt worden waren. Ergebnis: Nur die Beschäftigung mit dem Tod, nicht aber die mit den Schmerzen, steigerte den TV-Voyeurismus. Und auch umgekehrt wurde ein Schuh draus, wie die Datenanalyse zeigte: Der Todesgedanke kurbelte ausschließlich das Bedürfnis nach erotisch angehauchten Sendungen an, nicht aber jenes nach Krimis oder Dramen, die ja ebenfalls die Aufmerksamkeit fesseln und damit für Ablenkung sorgen.

Übrigens: Die weiblichen Teilnehmer zeigten zur Überraschung des Untersuchers eine stärkere Vorliebe für erotisch angehauchte Fernsehformate als die Männer – obwohl man ja gemeinhin eher Letzteren nachsagt, bei ihnen sei das assoziative Sexmodul ständig im Bereitschaftsmodus. Und nun also die Frauen. Taylor führt dieses Studienresultat darauf zurück, dass auf ein weibliches Publikum zielende Fernsehserien zunehmend auch auf Dialoge und Szenen setzen, die ein wenig schlüpfrig – allerdings selten explizit – daherkommen. So war das schon bei „Desperate Housewives“ oder „Sex and the City“ zu besichtigen. Im Fernsehen nach erotisch Anregendem Ausschau zu halten ist also kein männliches Privileg mehr.

Allerdings: Eindeutig „animalischer“ Sex scheint nach wie vor eine Domäne von Männerfantasien zu sein – und wiederum ist der Gedanke an den Tod ein Auslöser, der diese Fantasien bei ihnen wachrüttelt. Das lässt eine Studie unter der Leitung der Psychologin Gurit Birnbaum vom Interdisciplinary Center im israelischen Herzliya vermuten. Birnbaum und ihre Kollegen ließen 36 Frauen und 40 Männer aus Israel entweder über ihren Tod oder aber einen Zahnarztbesuch nachdenken. Anschließend wurden sie nach ihrer Bereitschaft zu einem One-Night-Stand mit einer hypothetischen Bekanntschaft gefragt, die sie in einer einschlägigen Abschlepp-Bar kennengelernt haben sollten. Wie sich erwies, hatte die Zahnarztvision keinerlei Einfluss darauf, ob die Befragten sich auf dieses Liebesabenteuer einlassen würden. Anders der Todesgedanke: Er wirkte auf die Männer – nicht aber auf die Frauen – wie ein Aphrodisiakum und steigerte ihre Lust auf Gelegenheitssex. Das könnte man laut Birnbaum zum Beispiel damit erklären, dass sexuelle Eroberungen das männliche Selbstwertgefühl aufplustern. Und das solcherart gestärkte Ego dient ihnen möglicherweise als Schutz vor dem bedrohlichen Gedanken an die Endlichkeit des eigenen Lebens, der stets im Untergeschoss der Psyche lauert.

Romantikfreier Sex feuert die Todesfurcht an

Und die Frauen? Schon eine geringfügige Veränderung der Fragestellung sorgte dafür, dass auch sie von erotischen Fantasien profitierten, um sich vor latenter Todesfurcht zu schützen: In einem zweiten Experiment, diesmal mit US-amerikanischen Probanden, gab Birnbaums Team dem Anmachszenario einen etwas romantischeren Anstrich, mit Candle-Light-Dinner, ausgedehntem Konversationsvorspiel und all dem Brimborium. Und siehe da: Jetzt tendierten auch die Frauen dazu, den Todesgedanken mithilfe eines unverbindlichen Liebesabenteuers beiseitezuschieben. Dies war erst recht der Fall, wenn – wie in einem dritten Experiment gedanklich durchgespielt – die Begegnung nicht auf blanken physischen Sex hinauslief, sondern auf ein zärtliches Liebesspiel mit einem festen Partner. Das galt übrigens für beide Geschlechter. Womöglich ist also doch eher der Wunsch nach Schutz in einer liebevollen Paarbindung der Grund dafür, warum Menschen angesichts der Todesdrohung Sex suchen.

Auf sensible Naturen scheint purer, romantikfreier Sex die Todesfurcht sogar eher anzufeuern als einzudämmen. In einer klassischen Serie von Experimenten aus dem Jahr 1999 ermittelte ein Team um die erwähnte US-Forscherin Jamie Goldenberg, dass der Todesgedanke auf Menschen, die von ihrer Persönlichkeit her dünnhäutig, besorgt und ängstlich sind, ziemlich abturnend wirkt. Frauen und Männer, bei denen dieser Persönlichkeitszug namens Neurotizismus hoch ausgeprägt war, verloren merklich an Interesse an physischem (nicht aber an romantischem) Sex, nachdem sie über ihren eigenen Tod hatten nachdenken sollen. Bei emotional belastbaren Probanden mit niedrigen Neurotizismuswerten hingegen nahm das Interesse an explizitem Sex dann eher zu.

Für zartbesaitete Gemüter ist die Verbindung von Tod und Sex übrigens auch in umgekehrter Richtung ängstigend. Das stellten Goldenberg und ihre Mitforscher fest, als sie Versuchspersonen mit starkem Neurotizismus mit einem Fragenkatalog konfrontierten, in dem es nicht um Blümchen und Händchenhalten, sondern um die handfesten Aspekte von Sexualität ging. Das arbeitete in ihnen nach, wie ein anschließender Assoziationstest offenbarte: Prompt fielen den mit Schweinkram traktierten Sensibelchen vermehrt Wörter ein, die mit Sterben und Vergänglichkeit zu tun hatten. Sexuelle Ekstase war für sie wohl wirklich so etwas wie la petite mort, der kleine Tod.