Stickstoff und Feinstaub: Schadstoffe kostet Europäer rund zwei Jahre Lebenszeit

Verschmutzte Luft ist für die Gesundheit offenbar gefährlicher als bislang angenommen. Das geht aus einer am Dienstag in Mainz vorgestellten Studie hervor, die im European Heart Journal erscheint. Demnach verringern Feinstaub, Stickoxide, Ozon und Co. die durchschnittliche Lebenserwartung der Europäer um rund zwei Jahre, denn sie führen statistisch betrachtet jährlich zu 800.000 vorzeitigen Todesfällen. Bisherige Studien kamen nur auf halb so große Zahlen. Die europäische Umweltagentur zum Beispiel geht von 400.000 vorzeitigen Todesfällen pro Jahr in Europa aus.

Seit derartigen Berechnungen sei die Datenbasis deutlich solider und umfangreicher geworden, sagt Thomas Münzel, Kardiologie-Professor an der Universitätsmedizin Mainz, der zusammen mit Jos Lelieveld, Direktor am Max-Planck-Institut für Chemie, und weiteren Kollegen Autor der Studie ist. Die Mainzer Forscher nutzten ein neues Modell, Global Exposure Mortality Model (GEMM) genannt, mit dem sich die Auswirkung der Luftverschmutzung auf die Sterblichkeit genauer berechnen lässt. Das Modell basiert auf 41 aufwendigen Studien aus 16 Ländern.

Umweltgesundheitsrisiko Nummer eins

Die Forscher ermittelten zunächst die regionale Belastung mit Schadstoffen wie Feinstaub und Ozon mit Hilfe eines Atmosphärenchemiemodells. Diese Werte verknüpften sie mit krankheitsspezifischen Gefährdungsraten sowie der Bevölkerungsdichte und den Todesursachen in einzelnen Ländern.
Die in der Studie ermittelte deutlich höhere Zahl vermuteter vorzeitiger Todesfälle führen die Experten auch darauf zurück, dass weitere Krankheiten miteinbezogen wurden, die zwar nicht von Feinstaub verursacht, aber von ihm beeinflusst würden – etwa Diabetes und Hypercholesterinämie, ein zu hoher Cholesterinspiegel.


Luftverschmutzung sei das Umweltgesundheitsrisiko Nummer eins, betont Lelieveld. Sie sei bisher unterschätzt worden. Dabei gehöre sie zu den gravierendsten Gesundheitsrisiken neben Bluthochdruck, Diabetes, Übergewicht und Rauchen.

Vor allem Herzerkrankungen

„Luftschadstoffe führen zu mehr vorzeitigen Todesfällen als das Rauchen“, gibt Münzel zu bedenken. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt die Zahl der auf das Rauchen zurückgehenden Todesfälle – inklusive des Passivrauchens – auf weltweit 7,2 Millionen jährlich. Luftschadstoffe führen den Berechnungen der Mainzer Forscher zufolge weltweit zu 8,8 Millionen vorzeitigen Todesfällen, bisher war man von 4,5 Millionen ausgegangen.
Die Todesfälle gehen den Forschern zufolge vor allem auf Herzkreislauf- und Atemwegserkrankungen zurück. Dabei sei der Beitrag der Luftschadstoffe zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen besonders groß.


In mindestens der Hälfte der vorzeitigen Todesfälle seien Herzinfarkte, Schlaganfall und ähnliche Erkrankungen die Todesursache. Der Anteil von Atemwegserkrankungen wie Lungenkrebs, Lungenentzündungen und COPD, eine chronische Verengung der Atemwege, liege bei 20 Prozent.
Die Menschen in Deutschland haben den Studienergebnissen zufolge eher überdurchschnittlich unter Luftverschmutzung zu leiden. „Von den 800.000 vorzeitigen Todesfällen in Europa entfallen 124.000 auf Deutschland“, berichtet Münzel. Noch besser lassen sich einzelne Länder vergleichen, wenn man die Zahl der vorzeitigen Todesfälle pro 100.000 Einwohner betrachtet. Europa kommt dabei im Schnitt auf 133, Deutschland auf 154. Im globalen Durchschnitt sind es 120 Menschen pro 100.000 Einwohner, die vorzeitig an den Folgen verschmutzter Luft sterben.

Reduktion von Feinstaub

„Dass die Zahlen für Europa relativ hoch sind, hat mit der Kombination aus schlechter Luftqualität und hoher Bevölkerungsdichte zu tun“, sagt Jos Lelieveld. In osteuropäischen Ländern wie Rumänien und Bulgarien seien es sogar mehr als 200 vorzeitige Todesfälle pro 100.000 Einwohner. „Die Luftqualität ist dort aber nicht unbedingt schlechter. Der Unterschied kommt eher durch die weniger gute medizinische Versorgung zustande, die auch die Lebenserwartung beeinflusst“, sagt er.

Angesichts ihrer neuen Erkenntnisse appellieren Lelieveld und Münzel an Regierungen und internationale Organisationen, sich noch stärker darum zu bemühen, die Luftqualität zu verbessern. Dabei müsse es vor allem um die Reduktion von Feinstaub gehen, insbesondere der mit einer Partikelgröße unter 2,5 Mikrometer (Millionstel Meter) Durchmesser. „Diese kleinen Partikel sind die Hauptursache für Atemwegs- und Herzkreislauferkrankungen“, sagt der Kardiologie-Professor Münzer. Denn sie können bis in die Bronchien und Lungenbläschen eindringen. Sogenannte ultrafeine Partikel – mit einem Durchmesser von weniger als 0,1 Mikrometer – schaffen es sogar bis in den Blutkreislauf. 

Wichtiger Risikofaktor

Die möglichen Folgen: lokale Entzündungen in der Luftröhre und den Bronchien, verstärkte Bildung von Ablagerungen (Plaques) in den Blutgefäßen und erhöhte Thromboseneigung. Auch die Regulierung des sogenannten vegetativen Nervensystems, das unter anderem für den Herzschlag zuständig ist, kann sich unter dem Einfluss von Feinstaub verändern.


„Luftverschmutzung muss als wichtiger kardiovaskulärer Risikofaktor anerkannt werden, da sie im Körper zusätzliche Schäden verursacht“, fordert Münzel. Er will sich außerdem dafür einsetzen, dass Feinstaub auch in den kardiologischen Leitlinien künftig berücksichtigt wird. „Wenn er als Risikofaktor anerkannt ist, dann wird sich auch die Politik darum kümmern müssen, das Risiko einzudämmen“, sagt er.

Verkehr, Landwirtschaft, Kraftwerke, Fabriken und Heizungen

In Europa sei es angesichts der neuen Erkenntnisse nun noch dringlicher, die Belastung durch Feinstaub weiter zu senken und die Grenzwerte anzupassen. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass der Europäische Grenzwert für Feinstaub, der für den Jahresdurchschnitt bei 25 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft liegt, viel zu hoch ist“, sagt der Mainzer Kardiologe. Die Richtwerte der WHO lägen schließlich nur bei 10 Mikrogramm pro Kubikmeter im Jahresmittel.

Feinstaub entsteht durch den Verkehr, die Landwirtschaft, durch Kraftwerke, Fabriken und Heizungen. Bei Feinstaub aus dem Verkehr spielen neben dem Verbrennungsprozess in Motoren auch der Reifenabrieb und aufgewirbelter Staub eine Rolle.

Auch wenn es vielfältige Feinstaubquellen gibt, plädieren die Wissenschaftler vor allem dafür, weniger fossile Brennstoffe zu verbrennen, um dem Problem beizukommen. „Wenn wir saubere, erneuerbare Energien einsetzen, erfüllen wir nicht nur die in Paris getroffenen Vereinbarungen zur Eindämmung der Folgen des Klimawandels“, sagt Jos Lelieveld. „Wir können damit auch die von Luftverschmutzung verursachte Sterberate in Europa um bis zu 55 Prozent verringern.“

Debatte um Grenzwerte

In den vergangenen Wochen wurde in Deutschland beim Thema Luftqualität mehr über Stickoxide debattiert als über Feinstaub. Auslöser war ein Statement einer Gruppe von Lungenfachärzten, die die bestehenden Grenzwerte anzweifeln und die Gefahr durch Stickoxide als überschätzt bezeichnen.

Die Wissenschaftsgemeinde hat sich mittlerweile in diversen Statements und Expertisen gegen diese Sicht verwahrt und beruft sich auf das Wissen aus mehr als 70.000 Studien, das zum Beispiel den WHO-Richtwerten für Luftschadstoffe zugrunde liegt. Zurzeit erarbeitet eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe der Nationalakademie Leopoldina eine Stellungnahme, in der die Datenlage und ihre Interpretation bewertet wird. (mit dpa)