Urahn aller Eiweiße: So experimentierte die Natur, um erste Gene zu erschaffen

Wie konnten aus toter Materie Moleküle entstehen, die Leben auf der Erde ermöglichten? Und wie entwickelte sich aus dem anfangs schmalen Pfad der biologischen Evolution explosionsartig eine genetische Vielfalt? Jahrzehntelang haben Forscher versucht, diese Rätsel mit viel Geduld im Reagenzglasexperiment zu lösen. Berühmt wurde das Ursuppen-Experiment, mit dem der US-Chemiker Stanley Miller 1953 nachwies, dass die zum Aufbau lebender Organismen nötigen molekularen Bausteine von selbst entstehen, geeignete Bedingungen vorausgesetzt. 

Nun bekommen die Forscher Unterstützung durch leistungsfähige Computermodelle. Die Computer werden gefüttert mit dem verfügbaren Wissen über Möglichkeiten und Mechanismen der molekularen Selbstorganisation. Im Ergebnis lassen sich umfassende Rückschlüsse ziehen, wie sich aus einfach aufgebauten Verbindungen komplexe, informationstragende Moleküle entwickelten – bis hin zu Eiweißen, die alle Funktionen des Organismus steuern.

Urahn aller Eiweiße

Auf diese Weise ist ein US-Forscherteam an der Rutgers University in New Jersey nun dem mutmaßlichen Urahn aller Eiweiße auf die Spur gekommen: Es ist ein sehr kurzes Molekül, gerade einmal zwölf Aminosäuren lang. Diese Bausteine bilden die Millionen verschiedenartiger Proteine, aus denen alle Körperzellen der Organismen bestehen. Heutiges Leben greift dazu auf einen Baukasten von 20 unterschiedlich aufgebauten Aminosäuren zurück.

Dem Urahn aller Proteine stand diese Vielfalt noch nicht zur Verfügung, er setzte sich aus lediglich zwei verschiedenen Typen von Aminosäuren zusammen. Und, das ist das eigentlich bemerkenswerte Ergebnis des Computerexperiments: Eine geeignete Umgebung vorausgesetzt, kann das Urprotein spontan entstehen, ähnlich wie bei Millers Ursuppen-Experiment.

Für die Simulation griffen die Wissenschaftler auf die in Datenbanken gespeicherten Informationen über den atomaren und räumlichen Aufbau, die chemischen Eigenschaften, biologischen Funktionen und die Verwandtschaft von mehr als 9500 unterschiedlichen Proteinen zurück, die bei Bakterien, Pflanzen, Pilzen und im Tierreich vorkommen. Daraus berechnete der Computer dann den hypothetischen Urahn aller Proteine.

Ergebnisse im Journal of the American Chemical Society

„Wir haben keine fossilen Überlieferungen, wie die ersten Proteine auf der Erde vor rund vier Milliarden Jahren aussahen“, sagt Vikas Nanda, Professor für Biochemie und Molekularbiologie an der Rutgers University. „Bei der Rekonstruktion müssen wir deshalb von ihren Nachfahren, den modernen Proteinen, ausgehen. Mit ihrer Hilfe rechnen wir gewissermaßen zurück, wie diese sich aus einfach aufgebauten Vorfahren entwickelt haben könnten.“

Die Forscher, deren Ergebnisse kürzlich im Journal of the American Chemical Society erschienen sind, heben eine ganz besondere Eigenschaft hervor: Der Protein-Urahn war in der Lage, elektrische Ladungen zu transportieren, in dem er wiederholt Elektronen aufnehmen und abgeben konnte, ohne dabei zu zerfallen. Damit erfüllte er die Voraussetzung für den Energiestoffwechsel aller biologischen Prozesse und bildete die Basis für ein sich vielfältig entwickelndes Leben – vom Einzeller über die Fotosynthese bis hin zu den energiedurstigen Nervenzellen im Gehirn.

Wie aber konnte dieses Urprotein einst spontan entstehen? Dazu findet sich ein markanter Hinweis im Molekül, der bis heute bei seinen Nachfahren in allen Organismengruppen erhalten geblieben ist: ein „Herz“ aus Schwefel und Eisenatomen. „Dieses Zentrum spiegelt die Struktur und chemischen Verhältnisse von Eisen-Schwefel-Mineralen wider, die in den frühen Ozeanen der Erde reichlich vorhanden waren“, sagt Vikas Nanda.

Schwarze Raucher

Die eisen- und schwefelhaltigen Minerale entstanden als Ablagerungen entlang vulkanischer Spalten auf dem Meeresgrund. Das darin zirkulierende heiße Wasser löste aus dem Gestein die Minerale, die dann in großen Mengen ausfielen. Ähnliche Prozesse spielen sich noch heute an vulkanischen Tiefseequellen, den sogenannten Schwarzen Rauchern ab.

Vulkanische Prozesse lieferten somit einen reichhaltigen Chemiebaukasten, aus dem sich die Natur spontan bedienen konnte und mit dem sie experimentierte. Durch Selbstorganisation konnten so die ersten Moleküle mit biologischen Funktionen entstanden sein, ein Szenario, das der deutsche Chemiker und Patentanwalt Günter Wächtershäuser in den 80er-Jahren entwickelt hat.

„Die kleinen und einfachen Vorläufer der Proteine dienten quasi als Legobausteine für die Bildung immer längerer und komplexerer Verbindungen, ein Prozess, der schließlich zum erfolgreichen Selbstläufer wurde“, schreiben die US-Wissenschaftler in ihrer Studie. Sie erforschen auch im Auftrag der Nasa, unter welchen Bedingungen das irdische Leben entstand.

Komplex aufgebauten Eiweißverbindungen

Moderne Proteine setzen für ihre Bildung Gene voraus, die die Bauanleitung für die oft sehr komplex aufgebauten Eiweißverbindungen bilden. Nach Schätzungen von Wissenschaftlern existieren heute viele Millionen verschiedenartiger Proteine in der belebten Natur. Sie sind am Aufbau von Zellen und Geweben beteiligt und bringen biochemische Reaktionen in den Zellen in Gang. 

In jüngster Zeit gefundene Mikrofossilien lassen vermuten, dass sich bereits einige hundert Millionen Jahre nach der Entstehung der Erde vor rund 4,5 Milliarden Jahren Mikroorganismen entwickelt haben. Das setzt eine sprunghafte Evolution voraus. Eine Entwicklung der Organismen durch viele kleine genetische Veränderungen, sogenannte Punktmutationen, die bislang als wichtige Treiber der Evolution gelten, würde viel länger dauern.

Spontan entstehende Gene

Welcher Prozess konnte die biologische Entwicklung so rasant vorantreiben? Neue Gene können von allein und spontan entstehen, wie Wissenschaftler der Universität Münster nun herausgefunden haben. Beispielhaft nahm sich das Team aus Bioinformatikern um Erich Bornberg-Bauer die 160 Millionen Jahre alte Evolution der Säugetiere vor. Mittels Computeranalysen verglichen sie Anzahl, Länge, Position und Zusammensetzung von genetischen Neuerungen, die beim Menschen und mehr oder weniger mit ihm verwandten Arten wie Maus, Ratte und Opossum aufgetreten waren. 

Wie der Computervergleich zeigte, sind viele neue Gene in den Entwicklungslinien spontan und nicht in kleinen Schritten entstanden. Zur Bildung der neuen Gene kommt es durch ein „Verrutschen“ der Ablesemaschinerie beim Übersetzen der genetischen Buchstaben, welche die DNA bilden. Dadurch entstehen quasi aus dem Nichts neue genetische Bauanleitungen, die wiederum in neuartige Proteine übersetzt werden.

Aus diesem sich immer neu auffüllenden Vorrat bedient sich die Evolution und ermöglicht so den sprunghaften Neuerwerb und das Ausprobieren von Eigenschaften, die eine rasante Entwicklung ermöglichen. „Damit haben wir auch eine Erklärung dafür, wie grundlegend neue Eigenschaften in einem Organismus entstehen können“, sagt der Bioinformatiker Erich Bornberg-Bauer. „Allein durch punktuelle Veränderungen der genetischen Struktur ist das nämlich nicht erklärbar.“