Verhängnisvolle SMS: Wie Handydaten im Ukraine-Krieg genutzt werden
Das Mobiltelefon spielt im Ukraine-Krieg eine wichtige Rolle, auch zur Ortung. Das ukrainische Militär rät Soldaten daher, ihre Handys auszulassen.

Zu Neujahr um 0.01 Uhr – das Silvesterfeuerwerk donnerte gerade lautstark in den Städten von Finnland bis nach Griechenland – schlugen in einem Militärcamp der russischen Armee in der besetzten Region Donezk vier Raketen ein. 89 Rekruten kamen bei dem ukrainischen Angriff ums Leben. Von der Militärbaracke blieben nur noch Trümmer übrig.
Das militärische Ziel war wohlgewählt: Die ukrainische Luftwaffe konnte die russischen Soldaten über Handys orten, die in einem lokalen Mobilfunkmast eingeloggt waren. Das bestätigte das russische Militär. Das russische Verteidigungsministerium ist über die Saumseligkeit seiner Soldaten erzürnt.
Erst im Dezember hatte ein russischer Soldat Fotos von sich und seinen Kameraden vor einem Country Club auf dem russischen Facebook-Klon VKontakte hochgeladen und mit einem Geotag versehen, der den genauen Standort der Truppe verriet. Für die ukrainische Armee war es ein Leichtes, die Brigade zu lokalisieren. Wenig später wurde der Country Club zerstört. Im vergangenen Jahr war sogar ein hochrangiger russischer General getötet worden, nachdem er einen privaten Anruf erhalten hatte.
Künstliche Intelligenz hilft bei der Zielauswahl
Obwohl der Ukraine-Krieg mit militärischen Mitteln des 20. Jahrhunderts ausgetragen wird, spielen Handydaten in dem Konflikt eine wichtige Rolle. Beide Seiten versuchen, mithilfe von GPS-Tracking, gegnerische Truppen zu orten. Bei der militärischen Zielerkennung, dem sogenannten Targeting, nutzt die Ukraine eine Künstliche Intelligenz des amerikanischen Softwareanbieters Palantir.
Die vom libertären Investor Peter Thiel gegründete Firma, die in der Anfangsphase von der CIA mitfinanziert wurde, verkauft Analysesoftware an Unternehmen und Behörden auf der ganzen Welt, unter anderem auch an die hessische Polizei. Die Software namens MetaConstellation, die Palantir der Ukraine kostenlos zur Verfügung stellt, verarbeitet massenhaft Daten von Satelliten, Flugzeugsensoren und Drohnen, um in Echtzeit feindliche Truppenbewegungen zu verfolgen. Palantir-Chef Alex Karp erklärte, die Software seines Unternehmens sei für den größten Teil des „Targetings“ in der Ukraine verantwortlich.

Das tragbare Funkgerät der Reihe SCR-300, das erstmals großflächig 1944 bei der Landung der US-Truppen in der Normandie eingesetzt und wegen seiner Praktikabilität kurz „Walkie-Talkie“ genannt wurde, markierte einen Wendepunkt in der Kriegskommunikation. In der Folge wurde die Technik kleiner und leichter. Das Nachfolgemodell SCR-536, das Motorola unter dem Namen „Handie-Talkie“ patentieren ließ, wog nur noch 2,3 Kilogramm.
Russland trackt feindliche Soldaten indes mithilfe von Drohnen, die – etwa durch das Senden von SMS – Signale von Mobilfunkgeräten in einem bestimmten Radius abfangen. Ist ein Gerät lokalisiert, werden die GPS-Koordinaten unmittelbar an die Armeeführung weitergeleitet.
Digitale Version einer achtlos in der Nacht angezündeten Zigarette
Das ukrainische Telefonnetz stammt in weiten Teilen noch aus Sowjetzeiten, die lokalen Netzbetreiber haben das Überwachungssystem Sorm – eine Art Hintertür, mit der der russische Geheimdienst Telefon- und Internetdaten abgreifen kann – nur geringfügig verändert. Als 2014 Bürger auf dem Maidan gegen den prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch protestierten, erhielten die Demonstranten eine SMS-Warnung: „Lieber Kunde, Sie sind als Teilnehmer eines Massenaufruhrs erfasst.“ Wie die Protestierenden geortet werden konnten, ist unklar – die Telefongesellschaften stritten jede Beteiligung ab.
Damals war es nur ein Warnschuss. Heute kann eine eingehende SMS oder ein Anruf einem ganzen Bataillon das Leben kosten. Forscher der Universität Kopenhagen nannten Handy-Anrufe „die digitale Version einer achtlos in der Nacht angezündeten Zigarette“. Die ukrainische Armee hat ihren Soldaten daher eingeschärft, ihre SIM-Karten zu Hause und Mobiltelefone ausgeschaltet zu lassen (wobei man sich fragt, woher die vielen TikTok-Videos von der Front kommen). Handy-Gespräche sollten nur in befreiten Regionen oder solchen mit vielen Menschen geführt werden.
Allein, die russische Armee schreckt bei ihrem brutalen Angriffskrieg auch vor Zivilisten nicht zurück. Besonders makaber: Russische Soldaten nutzten die Handys verstorbener Ukrainer, um wenige Stunden nach ihrem Tod nach Hause zu telefonieren. Das belegt eine Auswertung von Handydaten durch die New York Times.
Ferngesteuerte Hightech-Drohnen spüren Handys am Boden auf
Aber auch auf der anderen Seite macht man sich zurückgelassenes Kriegsgerät zunutze. So hat die ukrainische Armee nach eigenen Angaben per Drohne das Funkgerät eines getöteten russischen Soldaten geborgen, mit dem sie den Militärfunk des Feinds abhören konnte.
Auch im Krieg gegen den Terror, den die USA nach den Anschlägen vom 11. September ausriefen, spielen Handy-Daten eine wichtige Rolle. Ferngesteuerte Hightech-Drohnen, die an US-Stützpunkten Tausende Kilometer entfernt mit einem Joystick bedient werden, können durch Laufzeitpeilung oder unbemerkte Datenabfragen über das Mobilfunknetz Handys am Boden aufspüren.
Selbst im Flugmodus oder mit leerem Akku lassen sich die Geräte orten. Ein ehemaliger Drohnenpilot des amerikanischen Joint Special Operations Command (JSOC) sagte einmal: „Wir gehen keinen Menschen nach – wir gehen ihren Handys nach, in der Hoffnung, dass die Person am anderen Ende der Rakete der Bad Guy ist.“
„Die ganze Kriegskunst basiert auf List und Tücke“
Aber was, wenn nicht? Unter Sicherheitsexperten ist seit Jahren bekannt, dass Taliban-Führer teils Dutzende SIM-Karten besitzen und diese in verschiedene Rucksäcke verstauen, um falsche Fährten zu legen. „Die ganze Kriegskunst basiert auf List und Tücke“, sagte schon der chinesische General Sun Tsu vor 2500 Jahren. Das gilt auch für die digitale Kriegsführung im Ukraine-Krieg. So setzt Russland sogenannte IMSI-Catcher ein, tragbare Basis-Stationen, die einen Funkmast simulieren. Loggt sich ein Handy in der Nähe in diese Fake-Funkzelle ein, kann der Angreifer das Gerät lokalisieren und Gespräche mithören.
Wie das Technikmagazin Wired berichtet, sind in den von Russland annektierten Gebieten zwei neue Mobilfunkanbieter (7Telecom und MirTelecom) auf den Plan getreten, die die Gegend um die Städte Cherson, Melitopol und Saporischschja mit mobilem Internet versorgen wollen.
Im Juni vergangenen Jahres waren Bürgern der besetzten Gebiete erstmals markenlose SIM-Karten aufgefallen, die im Internet zum Verkauf standen. Laut einer Analyse des Sicherheitsexperten Cathal Mc Daid könnte das Netzwerk eigens für russische Soldaten geschaffen worden und ein Hebel sein, Netzinhalte der Nutzer zu kontrollieren.
Nutzung von Starlink für militärische Drohnen eingeschränkt
Die Tech-Konzerne aus dem Westen üben sich dagegen weitgehend in Neutralität. So hat Google die Funktion der Live-Verkehrsinformationen seiner Navigationssoftware deaktiviert, mit der man in Echtzeit Truppenbewegungen oder Menschenansammlungen hätte verfolgen können. Das Raumfahrtunternehmen SpaceX hat kürzlich die Nutzung des Satelliten-Internets Starlink, das Gründer Elon Musk der Ukraine kurz nach Kriegsbeginn zur Verfügung stellte, für militärische Drohnen eingeschränkt.
Das Netzwerk dürfe nicht für „offensive Zwecke“ genutzt werden, teilte das Unternehmen mit. Am Ende könnte das womöglich kriegsentscheidend sein. Denn für eine effektive Verteidigung braucht die Ukraine nicht nur Flugabwehrsysteme, sondern auch ein funktionierendes Telekommunikationsnetz.