Wissenschaftsskandal Berlin/Brandenburg: Forscher aus der Region in dubiosen Raubverlagen publiziert

Die Wissenschaftsszene in Berlin und Brandenburg ist aufgeschreckt, zum Teil sogar entsetzt. Der Grund: Mehr als 250 Wissenschaftler der Region haben ihre Arbeiten in dubiosen Raubverlagen publiziert. Sie schädigen damit ernsthaft den Ruf der Hochschulen, lautet eine Schlussfolgerung aus der jetzt veröffentlichten Recherche eines internationalen Teams verschiedener Medien, zu denen unter anderem die ARD-Landesrundfunkanstalten sowie in- und ausländische Zeitungen, TV-Sender und Internetportale gehören.

Das Rechercheteam wertete weltweit 175.000 Forschungsartikel aus, die auf fünf scheinwissenschaftlichen Plattformen erschienen sind. 400.000 Wissenschaftler sind davon betroffen, in Deutschland 5000. Für Berlin und Brandenburg fanden sich mehr als 100 zweifelhafte Arbeiten, an denen oft mehrere Autoren mitwirkten – insgesamt 250. „Den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sollte bewusst sein, dass es sowohl der Glaubwürdigkeit der Wissenschaft als auch dem Ruf ihrer Einrichtungen schadet, wenn sie sich an Fake-Konferenzen und Fake-Journalen beteiligen“, sagt Berlins Wissenschaftsstaatssekretär Steffen Krach (SPD).

Keine wissenschaftlichen Verlage

„Für die Wissenschaftseinrichtungen gilt es jetzt, die Fälle, die leider auch in Berlin aufgetreten sind, genauer zu untersuchen, um eine gute wissenschaftliche Praxis sicherzustellen.“ Bei den recherchierten Fällen handelt es sich in der Regel nicht um Betrug seitens der beteiligten Wissenschaftler – anders als bei Plagiaten in Doktorarbeiten. Viele der Arbeiten seien „wissenschaftlich nicht zu beanstanden“, erklärt zum Beispiel Manuela Zingl, die Pressesprecherin der Berliner Charité, an der mehrere Wissenschaftler betroffen sind.

Es geht konkret um die Veröffentlichung in Online-Fachjournalen scheinwissenschaftlicher Verlage. Man spricht auch von Raubverlegern – nach dem englischen Begriff „Predatory Publisher“. Die Verlage sitzen in Südasien, Afrika oder der Golfregion. Einer davon ist der Omics-Konzern mit Sitz im indischen Hyderabad, der mit seinen Tochterfirmen Hunderte Fachmagazine herausgibt. Diese geben oft vor, nach wissenschaftlichen Kriterien vorzugehen, also die Arbeiten von Fachleuten prüfen zu lassen. Allerdings ist es Reportern des Rechercheteams eigenen Aussagen zufolge problemlos gelungen, falsche Studien in solchen Fake-Journalen unterzubringen.

Pharmafirmen nutzten scheinwissenschaftliche Verlage

In den untersuchten Online-Journalen könne praktisch jeder veröffentlichen, ob er Wissenschaftler sei oder nicht, lautet das Fazit des Rechercheteams. Dies wirke sich ernsthaft auf die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft generell aus. So publizierten Klimawandelskeptiker ihre umstrittenen Thesen auf diesem Weg. Dubiose Mittel gegen Krebs, Autismus und Parkinson würden mit ungeprüften Studien beworben. Auch Pharmafirmen nutzten scheinwissenschaftliche Verlage, um kritische Prüfungen durch seriöse Fachjournale zu umgehen. Der in der Wissenschaft übliche Standard dagegen verlangt, dass Arbeiten vor einer Veröffentlichung ein sogenanntes Peer-Review-Verfahren durchlaufen müssen. Unabhängige Gutachter des gleichen Fachs prüfen die eingereichte Arbeit etwa darauf, ob die Ergebnisse neu, die Methodik seriös, die Ergebnisse reproduzierbar, der Aufbau logisch seien.

Betroffen von den Veröffentlichungs-Vorwürfen sind in Berlin neben den Medizinern der Charité auch Forscher der Freien Universität (FU), der Humboldt-Universität (HU), der Technischen Universität (TU), der Beuth-Hochschule für Technik, der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) und anderer Hochschulen. Mitunter seien es nur „sehr wenige Einzelfälle“, wie die FU mitteilt.

Die Berliner Hochschulen gehen eigenen Aussagen zufolge daran, die Fälle im Einzelnen zu untersuchen und mit den Forschern „die Umstände der Publikation in derartigen Zeitschriften zu klären“, wie Hans-Christoph Keller, Sprecher der HU, mitteilt. Generell sei das Phänomen der Raubverleger an der Uni bekannt, so Keller, weil auch Forscher immer wieder durch Spam-E-Mails der entsprechenden Verlage belästigt würden. Zum Teil recht aggressiv, wie die Recherchen ergaben.

Mit Beratung und Aufklärung ihrer Wissenschaftler wollen die Hochschulen gegen die Machenschaften betrügerischer Verlage vorgehen. So verweist die HU auf die bestehende Satzung zur „Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis und zum Umgang mit Vorwürfen wissenschaftlichen Fehlverhaltens“. Über diese seien zumindest einige Wissenschaftler nicht genügend informiert. Solche Satzungen und Leitlinien wurden in den vergangenen Jahren an allen Berliner Universitäten verabschiedet.

Strenge Förderkriterien

Ziel sei eine breite und kontinuierliche Aufklärung, heißt es aus der TU. Unter anderem biete die Universitätsbibliothek Workshops an, in denen es darum gehe, wie man seriöse wissenschaftliche Journale erkenne. Die Publikationsfonds von TU und FU übernehmen eigenen Aussagen zufolge nur Veröffentlichungsgebühren von Zeitschriften, die den strengen Förderkriterien der Deutschen Forschungsgemeinschaft entsprechen.

Aber es gibt auch Selbstkritik. Dass Forscher am Ende auf die Offerten von Raubverlagen eingehen, hat nicht nur mit Naivität und Unwissen zu tun, sondern auch mit einem hohen Publikationsdruck. So nutzten Raubverlage eine „Schwäche unseres akademischen ,Belohnungssystems’, das quantitative Faktoren überbewertet und aufgrund von Masse und Überlastung kaum noch in der Lage ist, Inhalt und Qualität zu bewerten“, heißt es aus der Charité.

Auch fehle es an Anreizen für die Tätigkeit als Gutachter. Als wissenschaftliche Institution müsse man auch der Frage nachgehen, „inwieweit wir selbst das Phänomen der ,Vielpublikation um jeden Preis’ befördern, zum Beispiel durch Angabe von Mindestanzahlen von Publikationen“, so die Charité-Sprecherin.

Versprochener Begutachtungsprozess

Bei den in Raubverlagen oft gegen hohe Gebühren publizierten Arbeiten scheine es sich häufig um solche zu handeln, die bereits vorher erfolglos bei anderen Journalen eingereicht worden waren. Die Autoren seien offenbar froh gewesen, die Arbeit untergebracht zu haben, zumal ihnen in den E-Mails der Verlage ein Begutachtungsprozess versprochen worden sei. Hinzu kommt offenbar, dass Raubverlage auch Arbeiten ohne das Wissen der Forscher weiterverbreiten oder deren Namen für die Bewerbung von Fake-Konferenzen verwenden.

Teilweise hätten Forscher aber auch gezielt die Dienste solcher Verlage genutzt, um Forschungsbeiträge schnell zu publizieren, ohne sich der Kritik der Kollegen stellen zu müssen, so das Rechercheteam. Insgesamt habe sich die Zahl der Publikationen deutscher Forscher bei den fünf wichtigsten Raubverlagen seit 2013 verfünffacht.