Zugvögel: Unterwegs auf der grünen Welle

Die Reisesaison ist wieder in vollem Gange. Millionen von Zugvögeln machen sich in diesen Wochen auf den Weg von ihren Winterquartieren in die Brutgebiete. Es ist ein logistisch anspruchsvolles Unterfangen. Schließlich gilt es, genau zur richtigen Zeit das Ziel zu erreichen. Früh genug, um sich einen guten Partner und Nistplatz sichern zu können. Aber auch nicht so früh, dass man noch mit Eis, Schnee und winterlichem Nahrungsmangel zu kämpfen hat.

Die Rückreise einfach jedes Jahr am gleichen Tag und in der gleichen Geschwindigkeit anzutreten, ist da keine Lösung. Dazu sind die Wetterverhältnisse einfach zu unberechenbar: Tage, an denen im einen Jahr noch klirrender Frost herrscht, können im nächsten schon frühlingshaft mild sein. Woher also wissen die Vögel, wann sie in ihrem oft Tausende von Kilometern entfernten Winterquartier aufbrechen und wie lange sie unterwegs Pause machen müssen?

„Das ist eine spannende Frage, die bisher noch nicht in allen Details geklärt ist“, sagt Martin Wikelski, der am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell und an der Universität Konstanz die Geheimnisse des Vogelzugs untersucht. Offenbar gibt es eine ganze Reihe von inneren und äußeren Faktoren, die das Timing beeinflussen. Und erst allmählich gelingt es Biologen, die einzelnen Puzzleteile zusammenzusetzen.

Ein innerer Zeitmesser

„Wir wissen zum Beispiel, dass in diesen Tieren eine Art innere Jahresuhr tickt“, erläutert der Forscher. So haben umfangreiche Experimente gezeigt, dass Schwarzkehlchen einem genetisch festgelegten Programm folgen: Brut, Federwechsel und Zug müssen sich in einem bestimmten Rhythmus abwechseln. Gesteuert wird das Ganze offenbar durch den Stoffwechsel und den Energieverbrauch. Wie genau der innere Zeitmesser der Vögel funktioniert, kann bisher allerdings niemand sagen.

Klar ist jedenfalls, dass der richtige Takt allein nicht genügt. Damit die Uhr nicht vor- oder nachgeht, muss sie regelmäßig gestellt werden. Das übernimmt in diesem Fall ein Reiz von außen: die Tageslänge. Wenn diese einen bestimmten Wert über- oder unterschreitet, läutet die Jahresuhr die Zugphase ein. Doch wenn das alles wäre, müssten die Tiere tatsächlich jedes Jahr stur den gleichen Zeitplan abarbeiten. Tun sie aber nicht. „Das liegt daran, dass diese beiden Taktgeber von Umwelteinflüssen überlagert werden“, sagt Martin Wikelski.

Er und seine Kollegen haben zum Beispiel untersucht, was Nordamerikas Wanderdrosseln im April zum Aufbruch bewegt. Diese Vögel fliegen demnach los, wenn die Tageshöchsttemperaturen auf 20 Grad Celsius klettern. Denn das ist ein Zeichen für eine Wetterlage, die warme Luft in die Brutgebiete in Kanada und Alaska schickt. Gleichzeitig müssen bei Sonnenuntergang niedrige Windgeschwindigkeiten unter zehn Stundenkilometern herrschen, damit keine Turbulenzen den nächtlichen Flug stören.

„Auch viele andere Arten orientieren sich wahrscheinlich an solchen einfachen Faustregeln“, vermutet Wikelski. Hinweise darauf hat sein Team bei Blässgänsen gefunden, die in Westeuropa überwintern und in den arktischen Regionen Russlands ihre Kinderstuben haben. Mithilfe von kleinen Sendern haben die Forscher die Wanderungen solcher Vögel verfolgt. Besonders hatten sie dabei die Rastplätze im Blick, an denen die Tiere Zwischenstopps einlegten, um sich neue Energiereserven anzufressen. Wann kam die fliegende Kundschaft jeweils an diesen Gänse-Tankstellen an? Und von welchen Umweltfaktoren könnte das abhängen?

Einen deutlichen Zusammenhang haben Andrea Kölzsch vom Max-Planck-Institut und ihre Kollegen dabei zwischen dem Ankunftstermin und der Temperatur gefunden. Offensichtlich erreichten die Vögel ihre Raststätten immer dann, wenn es besonders rasch wärmer wurde. Und das ist aus Gänsesicht auch ein äußerst günstiger Moment. Denn Satellitenbilder verraten, dass zu dieser Zeit auch der Startschuss für das Pflanzenwachstum fällt: Die Vegetation beginnt zu ergrünen und liefert den Vögeln damit reichlich Futter von hoher Qualität. „Das alles spricht dafür, dass Blässgänse sozusagen mit der grünen Welle fliegen“, sagt Martin Wikelski.

Zwar weiß niemand, ob sie dabei auf den beschleunigten Temperaturanstieg reagieren, auf die Farbe der Vegetation oder sogar auf vorausfliegende Artgenossen. Jedenfalls folgen sie dem Ergrünen der Vegetation nordwärts. Und da sie zwischendurch mehrfach Rast machen, müssen sie auch nicht schon vom Start weg die Situation am Ziel voraussehen. Es genügt, wenn sie sich von einem Zwischenstopp zum nächsten vorarbeiten und ihre Reisegeschwindigkeit dabei immer wieder an die äußeren Gegebenheiten anpassen. Wenn das Wetter noch zu winterlich ist, können sie ja noch ein paar Tage länger an der Tankstelle bleiben und sich zusätzliche Energiereserven anfressen.

Auch bei anderen Arten haben Wikelski und seine Kollegen Indizien dafür gefunden, dass sie sich am Grün der Landschaft orientieren – und zwar sowohl bei ihren Interkontinentalflügen als auch bei kleineren Reisen innerhalb ihrer afrikanischen Winterquartiere. Immer scheint es dabei darum zu gehen, sich das zum jeweiligen Zeitpunkt günstigste Nahrungsangebot zu sichern. Dieses Prinzip haben Kuckucke offenbar ebenso verinnerlicht wie Neuntöter oder die eng mit den Nachtigallen verwandten Sprosser.

Sie alle folgen damit einer Strategie, mit der sie ihren Reisezeitplan relativ flexibel gestalten können. Wikelski ist deshalb relativ optimistisch, dass sich viele Zugvögel auf die Herausforderungen des Klimawandels einstellen können. Wenn das Frühjahr eher beginnt, folgen sie der grünen Welle eben früher.

„Allerdings kann es durchaus sein, dass sie dann woanders Rast machen müssen als heute“, gibt der Forscher zu bedenken. Gebiete mit günstigem Klima und reichem Nahrungsangebot könnten sich nach Norden verschieben. Wenn dort statt potenzieller Vogel-Tankstellen längst Städte und Agrarflächen liegen, haben die gefiederten Wanderer allerdings ein Problem. Und vielleicht ist es nicht das einzige.

Neue Theorien stellen auch ein altes Dogma infrage, nach dem Kuckuck und Co. strikte Individualreisende sind. Lange galt es als ausgemacht, dass bei solchen kleinen Zugvögeln jeder für sich ins Winterquartier und wieder nach Hause fliegt, ohne sich um seine Artgenossen zu kümmern. Inzwischen aber haben Experten zunehmend den Verdacht, dass auch bei diesen Wanderungen eine Art Schwarmintelligenz am Werk sein könnte.

Kommunikation in der Luft

Biologen kennen ein solches Phänomen von Gnus in der Serengeti. In endlosen Formationen sind die Huftiere dort unterwegs. Und diejenigen am Anfang der Kolonne scheinen Informationen an ihre weiter hinten wandernden Kollegen weiterzugeben. Wenn sie schnell unterwegs sind, gibt es vorne offenbar wenig zu fressen – und die Nachhut verschärft ebenfalls ihr Tempo.

„So ähnlich könnten sich zum Beispiel auch Schwalben an ihren Artgenossen orientieren“, vermutet Wikelski. Wenn die ersten das Tempo anziehen, schließen sich die anderen an. Doch was ist, wenn durch Jagd, Lebensraumzerstörung und andere Bedrohungen die Zahl der Reiseteilnehmer schrumpft? Möglicherweise klappt die Nachrichtenübermittlung dann nicht mehr so richtig und der flexible Zeitplan bricht zusammen. Ohne ihren Massentourismus könnten die Fernreisenden der Tierwelt also in massive Schwierigkeiten geraten.