Zum 200. Geburtstag des Dichters Ernst Ortlepp: Noch ist Polen nicht verloren

Wenn im 19. Jahrhundert einer in den Wald hineinrief, dann ließ sich heraushören, wes Geistes Kind er war. "Ich stand auf des Berges Gipfel, / Beschattet von einer Eiche Wipfel": Den Rufer dieser Verse würde man wohl als Romantiker klassifiziert haben, hätte er seine poetische Wanderung nicht folgendermaßen fortgesetzt: "Da trat mir ungelegen / Ein Phantom entgegen . / In den Falten des Gesichts / Das moralische Nichts und Wiedernichts/ . / Den Materialismus hatt ich gesehen / Vorübergehen/ . / Wie seine Kothseele / Des Menschen Werth nur nach Gold zähle".Hier spricht der Abscheu gegen eine Nützlichkeitswelt, wie er vor allem für die literarischen Revolten des Frührealismus typisch war. Da fußt das Gedicht vom "Materialismus" auf der hellsichtigen Wahrnehmung eines Bürgertums, das sich nicht mehr an der Idee bürgerlicher Freiheit, sondern nur noch am bürgerlichen Eigentum orientierte. Trotzdem wird man den Namen des Dichters fast nirgends finden, wo vom "Jungen Deutschland" beziehungsweise den "Dichtern des Vormärz" die Rede ist. Denn Ernst Ortlepp ist ein Vergessener - auch wenn sein Polenliederzyklus einst berühmt war und der Vers "Noch ist Polen nicht verloren" zum geflügelten Wort geworden ist.Die deutsche MisereDen Pastorensohn, der vor genau 200 Jahren in Droyßig (bei Zeitz, im vormaligen preußischen Herzogtum Sachsen) geboren wurde, bekannter zu machen, darum mühen sich seit Jahren zwei hallesche Germanisten. Roland Rittig und Rüdiger Ziemann fanden im Archiv des Zeitzer Museums Schloss Moritzburg zwei Briefe und einen handschriftlichen Lebenslauf Ortlepps sowie zwei bisher unbekannte Drucke. Ein erster ausführlicher Kommentar dazu erscheint jetzt im Akademie-Verlag. Außerdem wird im August ein Aufsatz zur Wirkung Ortlepps auf den jungen Nietzsche veröffentlicht; beide hatten Schulpforta besucht.Ohne Kenntnis von Ortlepps Werk, so meint Ziemann, werde "ein wichtiges Stück des Gesprächs nicht wahrgenommen, als das wir unsere Literaturgeschichte auch ansehen dürfen". Dass diese Behauptung alles andere ist als eine Floskel zur Ehrenrettung eines Heimatdichters, beweist der 1999 von Rittig herausgegebene Band "Klänge aus dem Saalthal". Die seit 1856 erste Edition Ortleppscher Gedichte versammelt viele der wichtigsten literarischen Themen der damaligen Zeit: Napoleon und der Geniegedanke, das Verhältnis zur kulturellen Vergangenheit und zu Goethe, freies Wort und deutsche Nation, das Künstlerdasein als Beruf und der Platz des Dichters in der Gesellschaft. Im Nachwort zeigt Ziemann, dass Ortlepp einer der ersten Schriftsteller in Deutschland war, die sich als politisch verstanden; dass bei Ortlepp die Vorstellungen des romantischen und des politischen Dichters zusammenzudenken sind. Dass er um die Jahre 1830 und 1848 "eine eigene poetische Partei" bildete, die sich im Zusammenspiel von Gegensätzen manifestierte: zwischen Pathos und Parodie, zwischen einer Neigung zur Monarchie und einer Abneigung gegen die "geistfeindliche deutsche Misere". Ernst Ortlepp hat in Leipzig studiert und in Schwaben gelebt, stets in ärmlichen Verhältnissen. Zweimal wurde der Missliebige des Landes verwiesen. Staatskanzler Metternich persönlich kümmerte sich um die Beschlagnahmung des Prosabüchleins "Fieschi". Nietzsche schließlich berichtete im Stile des Goetheschen "Werther" vom Tode Ortlepps 1864 in einem Saale-Arm bei Schulpforta. Werther aber ist der Prototypus eines Zerrissenen, der, so formuliert Ziemann, "mit der Welt nicht zurechtkam". Vielleicht ist es bis heute vor allem die Welt, die mit Ortlepp nicht zurechtkommt. Eine Ausstellung im Schloss Moritzburg wird sich immerhin bis zum 1. Oktober dem Dichter widmen. Noch ist also Ortlepp nicht verloren.