Zwei Ausstellungen fragen sich: Wie objektiv kann Porträtfotografie sein?: Das vermessene Gesicht

Erna Lendvai-Dircksen kommt derzeit ziemlich herum in den Museen. Das Gesamtwerk der gern auch "die braune Erna" genannten Fotografin (1883-1962) ist Angelpunkt von zwei Ausstellungen in Berlin und Wien. Lendvai-Dircksen - gewissermaßen eine Leni Riefenstahl mit umgebundener Schürze und mobilem Studio - schuf pathetisch inszenierte, jenseits des Individuellen zum Klischee geronnene Aufnahmen von einer blondgelockten "Jugend aus altem Stamm"; von Kindern in Tracht, putzig wie Käthe-Kruse-Puppen; von monumental vor den hohen Himmel gerückten Arbeitern; von braven Bäuerinnen mit wie holzgeschnitzten Gesichtern. So entstand eine Typologie der Deutschen, die mit Umbrüchen und Errungenschaften des frühen 20. Jahrhunderts rein gar nichts zu tun hatte und sich stattdessen so ländlich-sittlich wie anti-modern herleitete aus den Kategorien Blut und Boden, Volk und Rasse - die also nur zu leicht von den Nationalsozialisten ideologisch genutzt werden konnte.Die Wiener Albertina bettet diese weltanschaulichen Arbeiten ein in ein hochkarätiges Panorama der Porträtfotografie zwischen 1900 und 1938, das mit bürgerlichen Repräsentations-Settings des Fin de Siècle beginnt und anschließend, beeinflusst auch von der Expressivität des Stummfilms, die Hinwendung zu Spontaneität, individuellem Ausdruck sowie persönlichen, künstlerischen Inszenierungen belegt; insbesondere Frauen wie Marta Astfalck-Vietz, Yva oder Lotte Jacobi erkannten darin seinerzeit eine Möglichkeit, ein neues, modernes Bild von Weiblichkeit zu kreieren. In der Berliner Schau soll, neben der Lebensgeschichte der am hiesigen Lette-Verein ausgebildeten Fotografin, gezeigt werden, wie wenig von ihrem Innenleben und ihren Emotionen jene Protagonisten eines mythischen "Volkskörpers" preisgeben dürfen; gerade das aber galt damals als hervorragende Errungenschaft der Fotografie.Beide Ausstellungen vermeiden es indes, Erna Lendvai-Dircksen schlicht nur zu verteufeln. So absurd, kurzsichtig oder einfach verabscheuungswürdig ihr Abstammungs-Tafelwerk, ihre Agrarromantik, ihre Feindseligkeit gegenüber dem "wurzellosen" Großstadtleben heute auch wirken mögen - ihre Porträts finden, aus dem NS-Zusammenhang herausgelöst, ohne Weiteres einen Platz in der sozialdokumentarischen Fotografie ihrer Epoche. Lendvai-Dircksen einfache Menschen könnten ebenso die Armut auf dem Lande belegen, wie es in Amerika das Ziel ihrer Zeitgenossin Dorothea Lange war oder, in einem urbaneren Kontext, von Walker Evans; dem stolzen, statuarischen, heroischen Klischee-Arbeiter erlag ja Margaret Bourke-White einst auch sehr gern. Und so weist Janos Frecot, langjähriger Leiter der Foto-Sammlung in der Berlinischen Galerie, im Katalog zur Albertina-Ausstellung denn auch ausdrücklich auf Umnutzung und "Gleichschaltung" unterschiedlichster Bilder im "Kampf um Großdeutschland" hin, zu der sich so mancher Fotograf mit dem Hinweis auf einen verbindenden Traditionalismus, auf eine gemeinsame Geschichte verlockt sah. Mitunter übernahmen auch die Verlage gerne eine passende Einordnung; so wurde beispielsweise Friedrich Seidenstückers Aufnahme "Bei Caputh" von der völkisch-konservativen Zeitschrift "Volk und Welt" unter dem Titel "Deutscher Waldfriede" veröffentlicht.Die Suche nach dem "Volksgesicht", die Inszenierung allgemeiner physiognomischer Merkmale stand in den 30er-Jahren zwar bereits außerhalb des künstlerischen Diskurses, sie ist aber, wie Frecot weiterhin schreibt, lange eine Forschungshilfe mit den Mitteln der Fotografie gewesen: "Es mussten nicht einmal das ferne Asien, das geheimnisvolle Afrika oder der Wilde Westen Amerikas sein - mitunter genügte der Gang ins benachbarte Dorf, um Dinge und Menschen mit den Augen des Fremden, des Forschers, des Ethnographen zu sehen. (.) "Und auch im eigenen Land wurden ,fremde' Gesichter photographisch vermessen und archiviert: zumeist als Dokumentationen des Aussehens unterschiedlicher, zumeist randständiger Schichten."Die Albertina (die "Portrait im Aufbruch" aus der New Yorker Neuen Galerie übernahm und im Umfang erheblich erweiterte) stellt der Auflagenkönigin Lendvai-Dircksen (20 Bände, 250 000 verkaufte Exemplare) wie leitmotivisch August Sander gegenüber, dessen damals streng zensiert publizierte Aufnahmen nicht unter Titeln wie "Das Deutsche Volksgesicht" oder "Ein Deutsches Menschenbild" erschienen, sondern als "Antlitz der Zeit", als "Kulturgeschichte in Lichtbildern", die auf Realismus und Humanismus beruhte, auf einer kulturell gewachsenen Tradition. Und auf der Fähigkeit, so genau wie ein Maler hinzusehen: um die Selbstdarstellung nicht länger nur rein äußerlich als Zugehörigkeitspose zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht aufzunehmen. Sander galt sie vielmehr zugleich als Standesstolz wie als Ausdruck des Innersten, als der sich im Porträt sich manifestierenden Persönlichkeit.Weniger um eine enzyklopädische fotografische Epochenschau geht es dagegen "Menschenbild und Volksgesicht", der Ausstellung des Museums Europäischer Kulturen in Dahlem. Sie ist in annähernd zweijähriger Zusammenarbeit vom Institut für Europäische Ethnologie (Humboldt-Universität) mit dem Institut "Kunst im Kontext" (Universität der Künste) entstanden und erzählt vor allem chronologisch anhand von historischen Dokumenten; künstlerisch setzt sie lediglich einzelne zeitgenössische Ausrufezeichen: Keine "Stämme", sondern moderne Patchwork-Familien mit so vielen Nationalitäten wie Mitgliedern werden zum Beispiel ins Bild gerückt. Tiko Karrasch antwortet auf Lendvai-Dircksens stets scharf ausgeleuchtete Schwarzweiß-Aufnahmen mit farbigen, bewusst verschwommenen Fotografien, die kopfüber hängen. Einzelheiten sind nicht zu erkennen, Aussagen über die betreffende Person kaum zu treffen, sofern man sie nicht an den eigenen Erfahrungen - oder eben auch Vorurteilen - misst. Und Marcel D'Apuzzo nennt seine Serie gar frech "Unser neues Volksgesicht", sie versammelt Aufnahmen aus den Lichtbildausweisen von Immigranten-Kindern.------------------------------Bilder vom MenschenPortrait im Aufbruch präsentiert anhand von rund 200 Aufnahmen die Geschichte der Fotografie in Österreich und Deutschland 1900-1938. Bis zum 9. Oktober in der Wiener Albertina zu sehen. Der Katalog erscheint - inklusive Kurzbiografien zu den gut 50 beteiligten Fotografen - im Verlag HatjeCantz, herausgegeben von Monika Faber und Janos Frecot. 174 Seiten, 39,80 Euro.Menschenbild und Volksgesicht. Porträtfotografie zwischen Konstruktion und Propaganda ist bis zum 30. Oktober im Berliner Museum Europäischer Kulturen zu sehen (Arnimallee 25, geöffnet Di-Fr 10-18 und Sa/So 11-18 Uhr. Das Projekt wurde gemeinsam mit dem Institut für Europäische Ethnologie der HU und dem Institut "Kunst im Kontext" der UdK erarbeitet. Begleitkatalog: Lit Verlag, Berlin, 9,90 Euro.------------------------------Fotos : Aus: Erna Lendvai-Dircksen, "Jugend aus altem Stamm", publiziert in: "Das deutsche Volksgesicht, Band Schleswig-Holstein". Gauverlag Bayreuth, 1939."Unser neues Volksgesicht" von Marcel D'Apuzzo versammelt Aufnahmen aus Kinderausweisen.