Zwei Italiener sorgen für die Renaissance eines Genres - sie erzählen Lebensläufe: Idioten und gewöhnliche Menschen
Daß Italien seit jeher, und erst recht in den letzten Jahren ein Land eleganten, hintergründigen Fabulierens ist, gilt unter Literaturfreunden als ausgemacht. Lang ist die Liste der Autoren, die diesen Eindruck während der erzählerischen Hochkonjunktur in der Nachfolge Ecos und Calvinos auch bei uns prägen konnte. Der Modetrend ist längst weitergezogen und dürfte sich derzeit zwischen Kopenhagen und Spitzbergen aufhalten; doch ungebrochen scheint die Vitalität des Erzählens, mit der auch in Deutschland noch unbekannte Italiener die Leser belohnen, die dem Land treu bleiben.Ermanno Cavazzoni und Giuseppe Pontiggia gehören zu diesen neuen Namen, und sie schicken sich an, ihren Ruhm mit einer alten, neuen Form zu begründen, den "vite", zu deutsch: Lebensläufen. In ihren vor zwei Jahren fast zeitgleich erschienenen Büchern, die jetzt übersetzt vorliegen, zitieren sie eine Gattung, die in der italienischen Literaturtradition weit stärker als anderswo verankert ist. Vornehmlich Erfundenes Seit dem Mittelalter gehören auf dem Stiefel die "Lebensläufe" zum Repertoire der Dichter: zunächst als stereotype Heiligenleben; dann im Humanismus als Vergegenwärtigung antiker Persönlichkeiten; schließlich bei Vasari als Erzählung einer Kunstepoche, der Renaissance. Auch wenn der Vorwand dieser Gattung ein biographischer ist; in der Durchführung war der fiktionale Anteil immer dominierend - und genau daran knüpfen beide "modernen vite" augenzwinkernd an. So stellt Ermanno Cavazzoni gleich in seinem Vorwort an den Leser klar, daß seine "Kurzen Lebensläufe der Idioten" in Wirklichkeit das Leben "sonderbarer Heiliger" darstellen, in Freud und Leid herkömmlichen Heiligen verbunden. Und tatsächlich: Die Manien eines Flugzeugmechanikers, eines Wunderrechners oder eines realistischen Romanschriftstellers düpieren den gesellschaftlichen Common sense ebenso wie die Überlieferungen eines Apostels, eines Asketikers oder einer Wundertätigen. Das Spiel mit dieser Distanz zwischen Individuum und Gesellschaft ist es, das Cavazzoni in seinen 31 Miniaturen lustvoll variiert. Diese Zahl ist kein Zufall, sondern markiert den vom Autor beabsichtigten Charakter eines Monatskalenders: wochentags gibt's Idiotenleben, sonntags Nachrichten von außergewöhnlichen Selbstmorden - eine subversive Alternative zu den Erbauungskalendern.Während Cavazzoni seine Lebensläufe immer auch als "Fälle" kommentiert, als Bizzarrerien des Individuums, erzählt Giuseppe Pontiggia "Vom Leben gewöhnlicher Männer und Frauen" als vermeintlich unbeteiligter Chronist. Detaillierte Datumsangaben zu Geburt (alle zwischen 1890 und 1900 bzw. 1930 und 1940), Tod und den wichtigsten Lebensetappen seiner Personen suggerieren ebenso Objektivität wie der konsequente Gebrauch des Präsens. Subtile Kurzprosa Stück für Stück verdichten sich biographische Details zu Biographien, sollen sich 18 Lebensbilder aus allen Schichten zum Panorama der italienischen Gesellschaft unseres Jahrhunderts addieren. Ob dieses Konzept überhaupt aufgehen kann, darüber läßt sich trefflich streiten. Zweifellos gelungen ist aber die sprachlich lakonische, inhaltlich reichhaltige Anlage der Lebensläufe seiner auf den ersten Blick eher unscheinbaren Helden. Der Kunstgriff Pontiggias besteht darin, jeder Biographie ein Leitmotiv, eine psychologische Disposition oder auch einen Tick zu verleihen. Indem diese Elemente in der Chronik der Personen immer wieder aufscheinen, fügt sich ein klares Charakterbild zusammen, sei dies nun banal oder exzentrisch. Liebhaber subtiler Kurzprosa werden an beiden Büchern ihre Freude haben, egal, ob sie den eher schrägen (Cavazzoni) oder den gemesseneren Stil (Pontiggia) bevorzugen. Ermanno Cavazzoni: Kurze Lebensläufe der Idioten. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 1994. 126 Seiten, 24,80 Mark. Giuseppe Pontiggia: Vom Leben gewöhnlicher Männer und Frauen. Aus dem Italienischen von Barbara Krohn. Carl Hanser Verlag. München 1995. 304 Seiten, 36 Mark. +++